Augsburger Allgemeine (Land West)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (135)
Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
Wir wollen nicht sehen, dass die Hüter der öffentlichen Ordnung zugunsten eines Schwarzen eingreifen, wenn es zwischen ihm und einem Weißen zu Streit kommt. Wir wollen nicht sehen, dass Weiße und Schwarze sich in demselben Wartezimmer mischen. Denkt stets daran: Der geringste Weiße ist immer noch hundertmal mehr wert als all die sogenannten Angesehenen der Eingeborenen zusammen.
Richter Ascanio Carnaroli hätte die Zeitschrift am liebsten an die Wand seines Büros geschmettert. Diese elenden Zauberlehrlinge. Diese Dummköpfe. Diese… ihm fehlten die Worte. Glaubten sie wirklich, dass man so mit dem Gesetz umspringen konnte? Sie glaubten, sich an Recht und Ordnung zu halten, indem sie ständig dieses Wort im Munde führten: das Ansehen. Selbst auf das Titelblatt des Gesetzes Nummer 1004 des Imperiums hatten sie schwarz auf weiß geschrieben: „Strafmaßnahmen zur Verteidigung des Ansehens der Rasse
gegen die Eingeborenen von Italienisch-Afrika“. Als ließe sich Würde per Gesetz erzwingen.
Das war nicht das Kolonialrecht, das er im Sinn gehabt hatte, als er als junger, ehrgeiziger Richter nach Eritrea gekommen war. Ihn hatte die Schnelligkeit gereizt, mit der man an den Gerichten in Übersee Karriere machen konnte, doch vor allem wollte er sich möglichst fernhalten vom „Prinzipal“, wie manche alteingesessenen Anwälte der liberalen Schule Mussolini hinter vorgehaltener Hand nannten. Für Richter wie Carnaroli wurde die Luft an den faschistischen Gerichtshöfen immer dünner.
Er lebte nun schon viele Jahre in Ostafrika und wusste, dass die Dinge auch anders liegen könnten. Die Abessinier waren nicht blöd. Straßen, Kraftfahrzeuge, Krankenhäuser, Elektrizität – viele von ihnen hatten die Ankunft der Italiener auch als Chance begriffen. Sie wussten genau, dass ihre Art, außerhalb des Stroms der Geschichte zu leben, nicht andauern konnte. Sie hatten die italienischen Besatzer mit unglaublichem Wohlwollen empfangen. Das gleiche Volk, das sich in der Schlacht von unseren Maschinengewehren bereitwillig hatte dahinfegen lassen, legte nun die Waffen nieder und hieß uns wenn nicht in Freundschaft, so doch mit Neugierde willkommen. Im Nu hatten sie Wörter wie „Auto“, „Batterie“und „Flugzeug“gelernt und sowohl mentale Flexibilität als auch Pragmatismus bewiesen, die dem Faschismus fremd waren. Und was hatten die Italiener getan, anstatt das für sich zu nutzen? Sie hatten ihre Adligen offen gedemütigt, wie die letzten Bauern behandelt und alle mit einer unterschiedslosen Verachtung überzogen, anstatt sich die Aristokratie zum ersten Verbündeten zu machen, um ein so unermessliches Land überhaupt führen zu können. Aber nein. Der Duce verlangte totale politische Unterwerfung. Und alle gaben ihm Recht.
Manche juristische Eminenzen hatten ihm zum Gefallen die Theorie einer debellatio aufgestellt, der Bedingung, durch die ein kriegführender feindlicher Staat eine solche Niederlage erleidet, dass seine Macht in jeder Form und vollständig gebrochen wird. „Der bezwungene Staat verschwindet“, hatte er in der Juristischen Revue für den
Mittleren und Fernen Osten lesen müssen. „Als juristische Größe ist er tot, und der bezwingende Staat erwirbt ipso jure die überlebenden Elemente.“Und dann: „Einen Krieg mit einer debellatio zu gewinnen, erweist schon in der lateinischen Bezeichnung die römische Prägung des Sieges und ist somit politisch die dem Geist des faschistischen Italien angemessenste Art des Sieges.“Dem Duce hatten ein paar latinisierende Anklänge genügt, um sich sogleich wie ein neuer Cäsar in Gallien zu fühlen, ein Trajan in Dazien, dabei war er im Grunde nur ein… Hier brach der Richter seine Gedankengänge ab. Das sagte man besser nicht einmal zu sich selbst. Er wollte nicht riskieren, irgendwann versehentlich bestimmte gefährliche Worte laut auszusprechen.
Schade nur um den kleinen Irrtum, der in dieses pseudoromanisierende Bild hineingerutscht war: Sie waren nicht tot, also nicht alle, die Adligen, die die Stützpfeiler dieses Staates darstellten. Man konnte sie nicht in Ketten nach Rom schleppen oder die gesamte Bevölkerung massakrieren. Nicht dass dieser Irre von Graziani es nicht versucht hätte, aber – Pech für ihn und Glück für die Abessinier – es waren nicht mehr die Zeiten von Titus in Jerusalem. Ergebnis: Fast drei Jahre nach der Ausrufung des Imperiums gab es überall bewaffnete Aufstände, und die italienische Kontrolle beschränkte sich auf die Gegenden entlang der Straßen. Was in Italienisch-Ostafrika regierte, war alles andere als die pax romana.
Und trotzdem warfen alle ständig mit diesem hochtrabenden Begriff um sich. Ansehen.
Worin äußerte sich denn dieses Ansehen? Dass gleich und unparteiisch Recht gesprochen wurde? Keineswegs. Als Oberstaatsanwalt Lombardi den Gouverneur von Galla und Sidamo angezeigt hatte, der mit Schikanen und Diebereien Unzufriedenheit säte, war Lombardi versetzt worden, nicht der Gouverneur. Oder mehrte man das Ansehen vielleicht durch eine besonders gewissenhafte Rechtsprechung (schon Titus Livius wusste, dass ein gutes Tribunal mehr bei der Seele eines Volkes bewirkt als tausend tüchtige Garnisonen)? Stellen wir uns vor: Außerhalb von Addis Abeba war das Recht den Residenten und Kommissaren der jeweiligen Zone überlassen. Leuten, die nichts als Verachtung für die ansässigen Sprachen und Gebräuche hegten und ohne die mindeste Ahnung von Jura ausschließlich am eigenen Profit interessiert waren. Und diesen Ignoranten, die noch nie ein Gesetzbuch in den Händen gehalten hatten, oblag die Verantwortung über
Leben und Sterben von Untergebenen. Sie durften Haftstrafen von bis zu dreißig Jahren verhängen; sie durften das gesamte Hab und Gut eines Bauern konfiszieren und ihn zu absoluter Armut verurteilen, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen außer vielleicht dem Sektionssekretär – dem aber alles recht war, Hauptsache sie hoben schwungvoll die Hand zum römischen Gruß. Und da der Wert, den ein Staat seiner Justiz einräumt, sich an dem Wert bemisst, den er den verurteilten Personen einräumt, war nun auch klar, welchen Wert die faschistische Kolonie den Eingeborenen zugestand: null.
Inzwischen ging alles vor die Hunde. Die Tierärzte hatten keine Medizin, um Viehepidemien einzudämmen, die Baufirmen stritten sich mit immer höheren Bestechungsgeldern um Aufträge. Ein Freund aus dem Kolonialministerium hatte dem Richter anvertraut, dass die Finanzen in Übersee ein schwarzes Loch seien, das den Staat in den Bankrott trieb. „In ein paar Jahren bricht alles zusammen“, hatte er ihm gesagt. Ein echtes Genie, der Prinzipal! Er hatte ein Wunder zustande gebracht, wie man es in der Geschichte noch nicht gesehen hatte: Kolonien, die ihre Kolonialherren entschieden mehr kosten als sie einbringen.