Augsburger Allgemeine (Land West)
Schröders wahres Erbe
Leitartikel Das Prinzip des Förderns und Forderns hat den Sozialstaat robuster gemacht. Trotzdem will die Ampel Hartz IV jetzt abschaffen. Ein Irrweg.
Niemand in Deutschland fällt ins Bodenlose, wenn das Schicksal zuschlägt. Mit seinem eng geknüpften Netz aus Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, der Grundsicherung für Rentner, Kinderzuschlägen für Familien mit schmalem Budget, der Rente bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, dem Kurzarbeitergeld und der Absicherung des Existenzminimums durch Hartz IV ist der deutsche Sozialstaat ebenso leistungsfähig wie teuer. 1,2 Billionen Euro flossen im Jahr 2020 in Ausgaben für Soziales – das ist ein Drittel der Wirtschaftsleistung.
Dafür darf der Sozialstaat von den Menschen, die er schützt und absichert, auch ein Mindestmaß an Kooperation erwarten. Dass Bezieher von Hartz IV nach dem Willen der Ampel kaum noch Sanktionen zu befürchten haben, wenn sie
Stellen ausschlagen oder Termine beim Amt schwänzen, ist der bislang frontalste Angriff auf das Prinzip des Förderns und Forderns. Wer buchstäblich von der Solidarität anderer lebt, nämlich der der Steuerund Beitragszahler, muss auch das ihm (oder ihr) Mögliche tun, um der Arbeitslosigkeit wieder zu entrinnen. Ohne die Möglichkeit, Trickser und Verweigerer durch Leistungskürzungen zu sanktionieren, wird der aktivierende Sozialstaat wieder zum rein alimentierenden – ein Rückfall in die VorSchröder Zeit, als die Arbeitsämter schon gar nicht mehr wussten, wer denn noch arbeitsfähig ist und wer nicht, weil es erstens an Kontrolle fehlte und sich zweitens viele Versicherte in der alten Arbeitslosenhilfe bequem eingerichtet hatten.
Damals haben die Grünen Gerhard Schröders abrupten Kurswechsel in der Sozialpolitik loyal und durchaus überzeugt mitgetragen. Heute sind es vor allem sie, die einen neuerlichen Kurswechsel erzwingen wollen. An die Stelle des von Sanktionen befreiten Hartz IV soll bald schon ein so genanntes Bürgergeld
treten, dessen Details die Koalitionäre zwar noch aushandeln müssen, dessen Regeln aber bei der Anrechnung von Vermögen oder der Größe der vom Staat zu bezahlenden Wohnung deutlich großzügiger sein werden als das gegenwärtige Instrumentarium. Zum bedingungslosen Grundeinkommen, der völligen Abkehr vom Leistungsprinzip nach dem Motto „Freibier für alle“, ist es da nur noch ein kleiner Schritt: ein fixer monatlicher Betrag für alle Bürgerinnen und Bürger, ohne dass diese etwas dafür tun müssten.
Dabei ist der alte Sozialstaat in bismarckscher Tradition besser als sein Ruf. Er verteilt die Lasten einigermaßen ausgewogen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der Gemeinschaft der Steuerzahler. Er ist vielleicht etwas zu bürokratisch organisiert, kann wie jetzt mit dem höheren Kinderbonus oder der Corona-Pauschale von 200 Euro für Hartz-IV-Bezieher aber trotzdem auf aktuelle Entwicklungen reagieren – und er ist, nicht zuletzt, durch seine im internationalen Vergleich gute Absicherung ein Garant des sozialen Friedens. In dem Moment allerdings, in dem er nur noch verteilt und die Eigenverantwortung des Einzelnen weitgehend ausblendet, beginnt etwas zu erodieren. Kein Sachbearbeiter kürzt einem Langzeitarbeitslosen gerne das Geld. Im Zweifel aber muss er es auch können, um etwas zu erreichen – und zwar in einem Maße, in dem es auch schmerzt.
Mit ihren Sozialreformen vor knapp 20 Jahren haben Sozialdemokraten und Grüne den Sozialstaat wieder vom Kopf auf die Füße gestellt und für einen bis dahin beispiellosen Aufschwung am Arbeitsmarkt gesorgt. Hartz IV abzuschaffen und durch ein Modell mit höheren Sätzen und laxeren Regeln zu ersetzen, mag im linken Milieu vielleicht gut ankommen, wo der Frust über Hartz IV tief sitzt. Sozialpolitisch vernünftig ist es nicht.
Politik nach dem Prinzip „Freibier für alle“