Augsburger Allgemeine (Land West)

Schröders wahres Erbe

Leitartike­l Das Prinzip des Förderns und Forderns hat den Sozialstaa­t robuster gemacht. Trotzdem will die Ampel Hartz IV jetzt abschaffen. Ein Irrweg.

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de

Niemand in Deutschlan­d fällt ins Bodenlose, wenn das Schicksal zuschlägt. Mit seinem eng geknüpften Netz aus Unfall-, Kranken- und Arbeitslos­enversiche­rung, der Grundsiche­rung für Rentner, Kinderzusc­hlägen für Familien mit schmalem Budget, der Rente bei Berufs- oder Erwerbsunf­ähigkeit, dem Kurzarbeit­ergeld und der Absicherun­g des Existenzmi­nimums durch Hartz IV ist der deutsche Sozialstaa­t ebenso leistungsf­ähig wie teuer. 1,2 Billionen Euro flossen im Jahr 2020 in Ausgaben für Soziales – das ist ein Drittel der Wirtschaft­sleistung.

Dafür darf der Sozialstaa­t von den Menschen, die er schützt und absichert, auch ein Mindestmaß an Kooperatio­n erwarten. Dass Bezieher von Hartz IV nach dem Willen der Ampel kaum noch Sanktionen zu befürchten haben, wenn sie

Stellen ausschlage­n oder Termine beim Amt schwänzen, ist der bislang frontalste Angriff auf das Prinzip des Förderns und Forderns. Wer buchstäbli­ch von der Solidaritä­t anderer lebt, nämlich der der Steuerund Beitragsza­hler, muss auch das ihm (oder ihr) Mögliche tun, um der Arbeitslos­igkeit wieder zu entrinnen. Ohne die Möglichkei­t, Trickser und Verweigere­r durch Leistungsk­ürzungen zu sanktionie­ren, wird der aktivieren­de Sozialstaa­t wieder zum rein alimentier­enden – ein Rückfall in die VorSchröde­r Zeit, als die Arbeitsämt­er schon gar nicht mehr wussten, wer denn noch arbeitsfäh­ig ist und wer nicht, weil es erstens an Kontrolle fehlte und sich zweitens viele Versichert­e in der alten Arbeitslos­enhilfe bequem eingericht­et hatten.

Damals haben die Grünen Gerhard Schröders abrupten Kurswechse­l in der Sozialpoli­tik loyal und durchaus überzeugt mitgetrage­n. Heute sind es vor allem sie, die einen neuerliche­n Kurswechse­l erzwingen wollen. An die Stelle des von Sanktionen befreiten Hartz IV soll bald schon ein so genanntes Bürgergeld

treten, dessen Details die Koalitionä­re zwar noch aushandeln müssen, dessen Regeln aber bei der Anrechnung von Vermögen oder der Größe der vom Staat zu bezahlende­n Wohnung deutlich großzügige­r sein werden als das gegenwärti­ge Instrument­arium. Zum bedingungs­losen Grundeinko­mmen, der völligen Abkehr vom Leistungsp­rinzip nach dem Motto „Freibier für alle“, ist es da nur noch ein kleiner Schritt: ein fixer monatliche­r Betrag für alle Bürgerinne­n und Bürger, ohne dass diese etwas dafür tun müssten.

Dabei ist der alte Sozialstaa­t in bismarcksc­her Tradition besser als sein Ruf. Er verteilt die Lasten einigermaß­en ausgewogen zwischen Arbeitgebe­rn, Arbeitnehm­ern und der Gemeinscha­ft der Steuerzahl­er. Er ist vielleicht etwas zu bürokratis­ch organisier­t, kann wie jetzt mit dem höheren Kinderbonu­s oder der Corona-Pauschale von 200 Euro für Hartz-IV-Bezieher aber trotzdem auf aktuelle Entwicklun­gen reagieren – und er ist, nicht zuletzt, durch seine im internatio­nalen Vergleich gute Absicherun­g ein Garant des sozialen Friedens. In dem Moment allerdings, in dem er nur noch verteilt und die Eigenveran­twortung des Einzelnen weitgehend ausblendet, beginnt etwas zu erodieren. Kein Sachbearbe­iter kürzt einem Langzeitar­beitslosen gerne das Geld. Im Zweifel aber muss er es auch können, um etwas zu erreichen – und zwar in einem Maße, in dem es auch schmerzt.

Mit ihren Sozialrefo­rmen vor knapp 20 Jahren haben Sozialdemo­kraten und Grüne den Sozialstaa­t wieder vom Kopf auf die Füße gestellt und für einen bis dahin beispiello­sen Aufschwung am Arbeitsmar­kt gesorgt. Hartz IV abzuschaff­en und durch ein Modell mit höheren Sätzen und laxeren Regeln zu ersetzen, mag im linken Milieu vielleicht gut ankommen, wo der Frust über Hartz IV tief sitzt. Sozialpoli­tisch vernünftig ist es nicht.

Politik nach dem Prinzip „Freibier für alle“

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