Augsburger Allgemeine (Land West)
Entscheidend ist nicht auf dem Platz
Fußball Im Schatten des Profisports sorgen sich Amateurvereine um ihre Zukunft. Die Corona-Krise hat Tendenzen des vergangenen Jahrzehnts verstärkt. Nun steht die Spielzeit vor dem Abbruch. Verantwortliche schwanken zwischen Zuversicht und Untergangsstimm
Bubesheim Sich an diese Stille zu gewöhnen, fällt Karl Dirr schwer. Der Ort ist ihm vertraut, hier hat er in den vergangenen drei Jahrzehnten viel Lebenszeit verbracht. Irgendwie ist ihm dieser Ort aber zugleich fremd geworden. Eben wegen dieser Stille. Kein „Hintermann“, kein „Zeit“, kein „Verschieben“. Gängige Kommandos, mit denen sich Fußballer auf dem Rasen unterstützen. Keine herumtobenden Kinder mit Gras befleckten Jeans. Und auch kein Gemoser von betagten Grantlern am Spielfeldrand, die ob der Unzulänglichkeiten manches Freizeitkickers den Kopf schütteln. Wäre ihnen schließlich nie passiert, als sie noch gegen den Ball traten.
All das vermisst Karl Dirr, der Fußball-Abteilungsleiter des SC Bubesheim, eines Vereins aus dem Kreis Günzburg. Durch seine Brille blickt er übers Sportgelände, bis zu dreimal pro Woche sieht er nach dem Rechten, sperrt auf, lässt Wasserhähne laufen, pflegt den Rasen. „Es ist ja nicht so, dass wir uns auf die faule Haut legen“, sagt er. Stets begleitet ihn Ungewissheit, wie es weitergeht. Wann wieder gespielt wird. Und: Wann wieder Leben auf seine Anlage zurückkehrt. Dirr, ein Typ Kümmerer, sorgt sich um seinen Verein, klar, aber auch um den Amateurfußball ganz allgemein, der ihn sein halbes Leben geprägt hat.
Eigentlich beginnt Ende April die schönste Zeit im Amateurfußball. In den Kabinen feiern dann verschwitzte Männer Aufstiege oder spülen Abstiegsfrust hinunter, später lassen sie in Sportheimen Mixgetränk-Maßen auf Eiche furnierten Tischen umherwandern. Mannschaftsund Vereinssport, das fördert die Gemeinschaft und schweißt im Wortsinn zusammen. Nicht nur auf dem Platz.
In diesem Jahr wird das weitaus nüchterner vonstattengehen. Nach mehrmaligen und mehrmonatigen Unterbrechungen werden Entscheidungen am grünen Tisch und nicht auf grünem Rasen gefällt werden. Der Bayerische Fußball-Verband (BFV) wird demnächst das vorzeitige Ende der Amateurligen verkünden. Relegationsspiele entfallen, Auf- und Absteiger ermittelt die Mathematik. Der Quotient aus absolvierten Spielen und Punkten entscheidet, bei Gleichheit die Tordifferenz. So plant jedenfalls der BFV. Längst regt sich Widerstand. In ganz Bayern erörtern Vereine eine Klage. Sie bevorzugen ein Modell wie in anderen Bundesländern: nur Aufsteiger, keine Absteiger.
Bayern hatte als einziger Landesverband die Saison 2019/20 nicht ab-, sondern nur unterbrochen. Ziel war, die Spielzeit über einen längeren Zeitraum hinweg zu Ende spielen zu können. Gelingen wird das nicht. Immerhin hat der BFV nun nicht mit zwei unvollendeten Runden zu kämpfen. In Baden-Württemberg wurde zweimal der Abstieg ausgesetzt, entsprechend aufgebläht sind die Ligen jetzt.
Nun verhält es sich nicht so, dass in Zeiten vor der Corona-Pandemie alles rosig gewesen wäre. Über Jahre hinweg hat der Amateurfußball gelitten, der Turbokapitalismus der Profiligen hat die Spaltung von der Basis extrem beschleunigt. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und seine Landesverbände orientierten sich an den Blatters, Platinis und Infantinos, den übermächtigen (Ex-)Präsidenten von Fifa und Uefa, statt sich für tropfende Wasserhähne, löchrige Trikots und kaputte Flutlichter in Gehöfte-Ligen zu interessieren. Im Fernsehen läuft Profifußball in Dauerschleife, während der Verband die Amateure mit Ligenreformen, Digitalisierung und Vorgaben traktiert. So die Vorwürfe vieler Vereine.
Andererseits: Kitt der Gesellschaft bleibt Gemeinschaft. Und die wird vor Ort im Sportverein gelebt. Vereinsmenschen wie Karl Dirr schwanken daher zwischen Untergangsstimmung und Zuversicht. „Den Menschen fehlt das gesellschaftliche Leben. Vielleicht können wir davon profitieren.“Den Verband nimmt Dirr bewusst in Schutz. „Die Pandemie ist ein Jahrhundertereignis. Wir Vereine machen auch Fehler.“
So bereitwillig entlässt Robin Jantos den DFB nicht aus der Verantwortung. Jantos engagiert sich für das Gemeinsame Aktionsbündnis zur Förderung des Amateurfuß
kurz Gabfaf. Im März 2019 gründete sich die deutschlandweite Initiative. Während der CoronaKrise fehlte Jantos ein klares Bekenntnis. „Die Vereine hätten sich ein deutliches Signal gewünscht, dass man sie unterstützt“, sagt das Vorstandsmitglied. Er hätte sich einen finanziellen Rettungsschirm vorstellen können, um als Verband zu signalisieren: Wir lassen euch nicht fallen.
Mit knapp 7,2 Millionen Mitgliedern ist der DFB der größte SportFachverband der Welt. Gemessen daran zeigten sich Präsident Fritz Keller und dessen Stellvertreter Rainer Koch äußerst zurückhaltend, wenn sie dem Amateurfußball in Pandemiezeiten eine Stimme geben sollten. Im Februar unternahmen die beiden den Versuch, ihren Freizeitkickern die Rasenrückkehr zu ermöglichen. In einem offenen Brief an die Politik schrieben sie unter anderem: „Fußball ist mehr als die Bundesliga und die Nationalmannschaft.“In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Warum baut der DFB einerseits eine 150 Millionen Euro teure Akademie in Frankfurt und lässt andererseits Vereine in Corona-Zeiten Verbandsabgaben leisten? Jantos spricht von fehlendem Gespür, „wo es im Amateurfußball brennt“.
Hinter Gabfaf steckt Sportbuzzer, ein Onlineportal des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Das merkt man der Initiative an, der Auftritt wirkt professionell. Mit ZDF-Sportmoderator Jochen Breyer verkündet ein prominentes Gesicht via Video die acht Versprechen des Gabfaf-Manifests. Unter anderem sieht man sich als „Anwalt der Amateure“, fordert eine „respektvollere Geldverteilung bis in die untersten Ligen“und nimmt „Politiker, Sponsoren, Verbände in die Pflicht“.
12 000 Unterstützer hat die Initiative, jeder kann mitmachen. Jantos muss eingestehen, dass Einfluss in die höchsten Gremien fehle. Geholfen werde bislang über Sponsoring im Kleinen. Hier ein Trikotsatz, dort ein Flutlichtmast oder ein Tischkicker fürs Vereinsheim.
Vor dem des SC Bubesheim steht Karl Dirr. Er will vorbereitet sein, wenn im August, so der Plan, die kommende Saison in der Bezirksliga startet. Wenn Leben auf seine Anlage zurückkehrt. Nicht nur die Verkaufshütte am Spielfeldrand ist neu, auch das Fundament darunter. Ob es sich anfühlen wird wie vor der Pandemie? Dirr weiß es nicht.
Im schwäbischen Fußball ist er eine Institution. Er kennt die Szene, die Szene kennt ihn. Bubesheim, Gundelfingen, Aindling oder Pipinsried: Niemand würde diese Orte in Bayern kennen ohne deren Fußballs, ballvergangenheit. In den 80er und 90er Jahren säumten mehrere hundert Zuschauer an den Wochenenden die Spielfeldränder, ein Teil des Dorflebens spielte sich am Sportplatz ab. Dem gegenüber steht die Gegenwart vor Corona, BezirksligaBegegnungen vor 20 Zuschauern.
Weil sich das Freizeitverhalten grundlegend verändert hat. Weil Individualsport Räume erobert. Weil Breitensportler kommerzielle Angebote annehmen. Weil sich immer weniger für ehrenamtliches Engagement begeistern. Dirr ist mit seinen 68 Jahren Lösung des Problems, irgendwie ist er aber auch Teil dessen. Seines Alters wegen. In allen Bereichen fehlt Nachwuchs.
Zu spüren bekommt das André Wolf, einer von drei Jugendleitern in Stätzling, einem Stadtteil von Friedberg. Der dortige FC hat sich mit seiner nachhaltigen Nachwuchsarbeit einen Namen gemacht. Jetzt sieht Wolf Herausforderungen auf sich zukommen.
Die Kugeln im Ballschrank hat eine gefühlte Ewigkeit kein Fußballschuh mehr berührt. „Ich weiß nicht, wie ich die Kinder wieder auf den Fußballplatz bekomme“, sagt Wolf. Ein Jahr Pandemie wirke sich nun mal aus, fügt der Jugendtrainer hinzu.
Seit Jahren versuchen Vereine, mit Spielgemeinschaften nachlassendes Interesse Pubertierender zu kompensieren. Diese hören auf, weil sich Prioritäten verändern: Schulabschluss, Freund oder Freundin, Weggehen mit Kumpels. Schließen sich nicht einmal mehr Kleinkinder einem Fußballverein an, werden die Lücken in den späteren Altersklassen noch größer.
Als Beleg dienen Zahlen des schwäbischen Verbands: Innerhalb des vergangenen Jahres meldeten Klubs in den Jahrgangsstufen der Sieben- bis Zehnjährigen 119 Mannschaften weniger für den Spielbetrieb an. Bereits zum zweiten Mal hat der BFV Spielzeiten im Nachwuchs abgebrochen. Das sorgt für Entfremdung. Es klingt fast wie ein Flehen, wenn Wolf sagt: „Ich hoffe, dass wir nach den Pfingstferien endlich trainieren dürfen.“
Weniger Sorgen macht sich Wolf hingegen um jene Kinder, die bereits im Verein verwurzelt sind. Bislang treten sie kaum aus. Und als im März für kurze Zeit kontaktloses Training erlaubt war, drängten die Kinder auf den Platz. Mit einem Strahlen und leuchtenden Augen, wie Wolf schildert. Er kann das nachvollziehen, trotz seiner 47 Jahre kickt er selbst noch leidenschaftlich. Wen der Amateurfußball und das Vereinsleben einmal gepackt hat, den lässt das nicht mehr los.
Kürzlich nahmen 100000 Interessierte an einer Corona-OnlineUmfrage des DFB teil. 98 Prozent vermissten den Amateurfußball, die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsgefühl
Vereinssport schweißt zusammen. Aber jetzt…
In Jengen planen sie schon für die Zeit nach der Krise
(71 Prozent) fehlten den Befragten sogar mehr als das aktive Spielen (68).
Genau darin sieht Mirko Mocsnik eine Chance. Sport mag der Anlass sein, entscheidend ist für ihn aber nicht auf dem Platz. Seit Juni leitet er die Geschicke des FC Jengen. Oft ist der gebürtige Niedersachse umgezogen, in der kleinen Gemeinde im Landkreis Ostallgäu ist er sesshaft geworden.
Über Sportvereine und höherklassigen Amateurfußball fand der 40-Jährige wiederholt Anschluss, das will der Vater von zwei Buben und einem Mädchen jetzt weitergeben. „Ich möchte, dass meine Kinder die Möglichkeit haben, wie ich, in einem Verein aufzuwachsen. Damit das in einem Ort möglich ist, muss man Verantwortung übernehmen“, sagt der Vereinschef.
Während der Ball ruhte, stellte der FC Jengen die Weichen für die Zukunft. Spieler ziehen sich künftig in renovierten Kabinen um, CasinoRoyal-Abend und Bockbierfest finden im herausgeputzten Sportheim statt. Bewirtet wird aus der modernen Küche heraus. Nächste Projekte sind eine LED-Flutlichtanlage und eine Sportplatzbewässerung mit Brunnen. Alles wurde auf links gedreht, sogar das Vereinswappen ist überarbeitet. Jetzt in Ockergelb und Perlnachtblau, der besseren Vermarktung wegen. Moscnik fasst zusammen: „Als Verein muss man über den Sport hinaus denken.“
Und an die Zeit nach der Pandemie. Wenn Stille wieder den Rufen der Spieler und dem Gemoser der Grantler weichen soll.