Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Rotlichtmeile ist nun eine Garküche
Thailand Unser Autor Ernst-Marcus Thomas erkennt seine Lieblingsstadt nicht wieder. Doch bevor er das neue Bangkok erleben konnte, musste er zwei Wochen Quarantäne im Hotelzimmer überstehen. Was ihm dabei half
Die Chiliwolke über dem großen Metallwok entfaltet ihr intensives Aroma, das sogar dem Koch die Tränen in die Augen treibt. Der Meister erhitzt zunächst das Öl, brät Hähnchengehacktes mit Chili und Basilikum scharf an, gibt noch ein paar geheime thailändische Gewürze dazu und löscht das Gericht schließlich mit Sojasoße ab. Serviert wird das Ganze mit Reis und einem frittierten Spiegelei – fertig ist das Mittagessen für 40 Baht, umgerechnet 1,10 Euro. Dass man in Bangkok in einer der vielen Straßenküchen für kleines Geld wunderbar essen kann, das ist nichts Neues. Ungewöhnlich ist der Ort, an dem ich heute zu Mittag esse. Ich sitze auf einem blauen Plastikhocker mitten auf der Soi Cowboy. Soi ist das thailändische Wort für Nebenstraße. Wobei Nebenstraße für diese Soi wirklich untertrieben ist. Vor dem Ausbruch der weltweiten CoronaPandemie war die Soi Cowboy jahrzehntelang der Inbegriff für das thailändische Rotlichtmilieu. Auf der sündigen Meile a. D., die ein wenig an „Die Große Freiheit“in Hamburg erinnert, reihte sich ein Club an den nächsten, mit Namen wie „Midnite“, „Sahara“oder „Shark“. Aber vor dem „Midnite“werben nun keine leicht bekleideten Mädchen mehr um Kundschaft; stattdessen esse ich vor dem Laden gerade mein Chili-Hühnchen; einen Club weiter verkauft eine junge Thailänderin Fleischspieße zum Mitnehmen. Wo denn die ganzen Gogo-Tänzerinnen hin sind, möchte ich wissen. „Die sind zurückgefahren aufs Land, zu ihren Familien. Einige sind aber noch in Bangkok, haben jetzt andere Jobs, putzen oder fahren Essen aus. Und warten darauf, dass das Nachtleben hier wieder losgeht“, sagt sie und schiebt eine Bockwurst auf einen Holzspieß.
„Und wer kommt jetzt hierher zum Essen?“„Das sind Angestellte aus den Bürogebäuden in der Nähe.“Das ehemalige Zentrum des Bangkoker Nachtlebens mit lauter Musik und Live-Shows der mehr als schlüpfrigen Art – in Zeiten von Corona: ein Essensmarkt für Angestellte. Etwas weiter rund um den „Nana-Plaza“, der früher auch für seine Bars und Sex-Shows berühmtberüchtigt war, auch tote Hose. Im wahrsten Sinne des Wortes. Alle Rollläden sind heruntergelassen. Die Straße wirkt wie eine Geisterstadt. Das ist das neue Bangkok. Vor zwei Wochen hätte ich mir das alles noch nicht vorstellen können.
Rückblende: Auf dem Tisch des Einwanderungsbeamten liegt ein Stapel mit Unterlagen: Visum, Einreisezertifikat, Sondergenehmigung des Außenministeriums, Bescheinigung der Krankenversicherung, dass im Falle einer Covid-19-Erkrankung die Behandlung bis zu einer Summe 100000 US-Dollar gedeckt ist, „Fit to Fly“-Zertifikat und natürlich ein negativer CovidTest, nicht älter als 72 Stunden. Der Beamte prüft akribisch jedes Dokument. Für ein Foto nehme ich die Maske ab und werde doch etwas nervös. Was, wenn ich etwas übersehen habe und meine Reise zu Ende ist, bevor sie überhaupt begonnen hat? Dann der erlösende Satz: „Willkommen in Thailand.“
Mein Abenteuer beginnt mit einer zweiwöchigen Quarantäne in einem Hotel, das extra dafür ausgewiesen ist und in dem keine „normalen“Reisenden wohnen dürfen. Im März 2020 hat sich Thailand hermetisch nach außen abgeschirmt und seither die Grenzen nur ein wenig geöffnet. Die zwei Wochen im Quarantäne-Hotel sind für jeden Pflicht, der ins Land kommt. Nicht wirklich verlockend für Menschen, die insgesamt nur drei Wochen Urlaub machen können. Im Netz habe ich Berichte von Leuten gelesen, die die Quarantäne schon hinter sich haben. Ihr Fazit: Der größte Fehler war, ein Zimmer ohne Balkon zu buchen. Diesen Fehler habe ich schon mal nicht gemacht und der Balkon soll sich im Laufe der nächsten zwei Wochen als hervorragende Investition herausstellen. Das Zimmer sah auf der Hotelseite aber irgendwie größer aus. Vielleicht fällt mir die Decke schon auf den Kopf, bevor die Quarantäne überhaupt losgeht. An der Rezeption erfahre ich, dass der erste Tag gar nicht der erste Tag ist, sondern „Tag null“. Also keine 14 Tage, sondern ganze 15! Der erste Tag geht überraschend schnell vorbei. Ich chatte mit Freunden, verschicke Videobotschaften und richte mich in meiner Quarantänebude häuslich ein. Der Jetlag tut ein Übriges. Um 20 Uhr falle ich komatös ins Bett.
Pünktlich um 5.30 Uhr wird am nächsten Morgen die Bangkok Post unter meiner Tür hindurchgeschoben, die lokale englischsprachige Zeitung. Und ich etabliere gleich zu Beginn ein Ritual, das zu den Höhepunkten meines Aufenthalts werden soll. Spätestens um 6 Uhr sitze ich mit der Zeitung auf meinem Balkon, lese über Bangkok, das sich gerade sehr weit weg anfühlt, und genieße den Sonnenaufgang über dem Chao Phraya. Das ist der Fluss, der sich durch die ganze Stadt schlängelt und den schon Murray Head in seinem 80er-Hit „One Night in Bangkok“besungen hat, als „muddy old river“, als schlammigen, alten Fluss. Und genau aus diesem trüben Gewässer scheint man hier im Hotel den Kaffee aufzubrühen.
Der erste Schock in der Quarantäne ereilt mich zum Frühstück. Punkt acht klopft es an der Tür. Ich öffne und sehe nur den leeren Flur. Keine Menschenseele. Eine Szene wie aus einem Hitchcock-Film. Auf einem Beistelltisch steht eine Tüte. Darin Plastikbehälter mit frischen Früchten: Melone, Ananas, Papaya. Und ein thailändisches Omelett. Alles mit Folie abgedeckt. In einem roten Müllbeutel stelle ich den Abfall später vor die Tür, damit das
Personal mit den Frühstücksresten nicht in Berührung kommt. In einem Pappbecher wird der sogenannte Kaffee serviert. Ich nehme einen Schluck, und meine schlimmsten Vorahnungen bestätigen sich: untrinkbar! Mit dem Alkoholverbot in der Quarantäne kann ich leben. Aber zwei Wochen lang dieser trübe Aufguss? Zu allem entschlossen bestelle ich bei „Lazada“, der asiatischen Version von Amazon, eine Kaffeemaschine. Zwei Tage später ist sie da. Fortan sitze ich jeden Morgen um 6 Uhr mit Bangkok Post und Espresso auf dem Balkon.
Was macht man den ganzen Tag, wenn man sein Zimmer nicht verlassen darf? Lesen, am Rechner sitzen und arbeiten, Serien gucken. Und übers Leben nachdenken. Aber ehrlich gesagt ist man damit nach einem Tag auch durch. Und dann? Bleiben immer noch 14 Tage. Ein Glas Rotwein wäre jetzt doch ganz schön.
Drei Mal täglich klopft es: Essen ist da. Zweimal am Tag läutet das
Telefon: Eine der Krankenschwestern fragt nach meinem Wohlbefinden und nach meiner Temperatur, die ich selber messen muss. Die Schwestern sind 24 Stunden vor Ort im Hotel und das Partnerkrankenhaus immer in Alarmbereitschaft. Falls einer der beiden Covid-Tests vor Ort positiv ausfällt, ist der Hotelaufenthalt beendet und es geht unverzüglich ins Spital.
Mein erster Test im Hotel ist negativ. Das Krankenhauspersonal sitzt hinter einer dicken Plexiglasscheibe und nimmt die Probe durch eine Rundung, durch die nur ein Arm hindurchpasst, geschützt durch eine Mischung aus Imkerhelm und Raumanzug. Nach dem ersten negativen Testergebnis gibt’s eine „Hafterleichterung“. Ab jetzt kommt das Essen nicht mehr in Plastik, sondern auf Geschirr und ich darf täglich für anderthalb Stunden raus. Ein Moment, auf den ich mich schon beim Einchecken riesig gefreut habe und der sich als herbe Enttäuschung herausstellt. In einem abgesperrten Bereich sehe ich zum ersten Mal die anderen Hotelgäste, die monoton ihre Runden drehen. Das ist mir zu langweilig. Schon nach 45 Minuten gehe ich wieder auf mein Zimmer. Die längsten 15 Tage meines Lebens gehen dann doch irgendwie rum. Am Morgen meiner Abreise fühle ich mich fast verwegen, als ich an allen Absperrungen vorbei ins Taxi steige.
Das neue Bangkok ist im Grunde genommen das alte – aus der Zeit vor dem Massentourismus. Man bekommt eine Ahnung davon, wie die Stadt wohl früher ausgesehen haben mag. Ich mache mich auf den Weg zum Skytrain, der auf Betonstelzen über die Metropole hinwegfährt.
Im Skytrain bin ich der einzige Ausländer
Ein Roboter übernimmt die CoronaKontrolle
Am Eingang: Temperaturcheck mit Thermokamera. Auf dem Monitor kann ich meine Temperatur ablesen. 36,4 Grad. Mein Gesicht hat einen grünen Rand, ich darf einsteigen. Und das wird an diesem Tag nicht die einzige Messung bleiben. Vor jedem Restaurant, jeder Mall, jedem Supermarkt...
In der Bahn bin ich weit und breit der einzige Ausländer. In Vor-Corona-Zeiten hat man hier immer andere Reisende gesehen. Die Männer klassischerweise mit Shorts und verschwitztem Tank Top, die Frauen in Pluderhose mit Elefantenmotiv. Von denen ist keiner mehr da. Aber viel ungewöhnlicher finde ich, dass ich sofort einen Sitzplatz finde. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren, die ich nun schon nach Bangkok komme und mich in den überfüllten Skytrain quetsche, sitze ich während der Fahrt. Ein ganz neues Fahrgefühl. In Restaurants, Cafés, Massagesalons – überall gähnende Leere. In meinem Lieblings-Massagesalon brennt gar kein Licht. Die Buchstaben, die einmal den Namen des Salons geformt haben, sind abmontiert. Hier wird man auch nach dem Ende der Pandemie nicht mehr aufmachen. Beim Barbershop, der sich unter der Metro-Haltestelle „Asoke“befindet, warten vier Frisöre auf Kundschaft. Ich bin der Einzige, der sich nach der Quarantäne einen frischen Schnitt verpassen lassen will. Man merkt, dass der Barbier froh ist, endlich etwas zu tun zu haben und er nimmt sich eine ganze Stunde Zeit. So lange hat an meinem schütteren Blondhaar noch niemand herumgeschnibbelt.
In den Bürogebäuden sieht es nicht besser aus. Eine Freundin, die seit sieben Jahren in Bangkok lebt und arbeitet, erzählt mir, dass die Hälfte ihrer Kollegen in den letzten Monaten entlassen wurde. Durch das leere Großraumbüro rollt jetzt ein Roboter. Angestellte, die nicht genügend Abstand halten, werden von ihm ermahnt und bekommen im Zweifel auch gleich eine RoboStandpauke obendrauf: „Setzen Sie bitte unverzüglich Ihre Maske wieder auf!“Bangkok hat sich verändert. Keine Frage.