Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Kraft der Musik
Mittelalterliche Klänge in St. Moritz
Vollkommen unverständlich, aber von der Staatsregierung seit letzter Woche angeordnet: Während einen Gottesdienst in St. Moritz 100 Personen besuchen dürfen, sind bei Konzerten wieder nur 50 Personen inklusive Musiker erlaubt.
Und so mussten zur Verzweiflung der Künstler kurzfristig um die 30 Zuhörer wieder abgewiesen werden am Freitagabend, als das fama-Konzert „Orpheus – Sänger & Mythos“in St. Moritz erklang. So wie Orpheus in die Unterwelt hinabstieg, begaben sich die Vertonungen des Mittelalters thematisch in das Totenreich, um mit einem überwältigend lichten „Alleluia“, durch die Kraft der Musik, wieder aus der Dunkelheit zurückzukehren. Die über ein Jahrtausend alten Vertonungen antiker Horaz-Texte und lateinischer Gebete verzauberten, mehr noch, berückten durch ihre geniale, raffinierte Schlichtheit.
Es genügen wenige, aber formvollendete Klänge an Harfe, Leier und karolingischer Kythara, um Rhythmus und Charakter der Ode zu skizzieren. Es ist die Frühzeit der okzidentalischen Musik, die Monodie beginnt sich zu verästeln in erste Mehrstimmigkeit, zunächst wie ein Schatten begleitend, dann selbstständige Schritte wagend. Die Stimmen der vier Sängerinnen erklangen wunderbar rein, in vitale Melismen ausbrechend und mündend. In manchen Kythara-„Grooves“lassen sich tatsächlich rockige Elemente, in manchen mittelalterlichen Songs moderne Barden wie Bob Dylan erahnen. So fern diese Zeiten sind, so vertraut ist ihre durchschimmernde Menschlichkeit. Die perfekt harmonierenden Sängerinnen Christine Mothes, Sarah Mariko Newman (die meisterlich kurzfristig einsprang), Sabine Lutzenberger und Hanna Marti (auch an Harfe und frühmittelalterlicher Leier), dazu der Kytharist Marc Lewon, die alle zusammen wunderbare Musik aus enormem Fachwissen verlebendigen, beschenkten die Zuhörer mit 70 beglückend herzerwärmenden, coronafreien Konzert-Minuten.