Augsburger Allgemeine (Land West)
Eine Auszeit von der Krise
Wohl dem, der in Corona-Zeiten in der Natur zu tun hat. Das Gärtnern hinter den Hecken lenkt ab, heitert auf und produziert Lebensmittel. Auch wenn die Nachbarschaft auf Distanz geht
Rosi Slavko schneidet die Spaliertraube. Die letzten Frostnächte haben den jungen Trieben zugesetzt. Sie sind erfroren und abgestorben. Ein Jahrzehnt hat Slavko den etwa 1,80 Meter hohen Stock, der ihren Schrebergarten von dem der Nachbarin trennt, geschnitten und erzogen. So eine Weinrebe macht sich nicht von allein. „Ich glaube, die ist hinüber. Schade. Naja, pflanzen wir einen neuen“, sagt die 77-Jährige resolut. Seit 16 Jahren bearbeiten sie und ihr Mann Vuko die etwa 200 Quadratmeter große Parzelle in einem der kleinen Querwege der Anlage am Siebentischwald. Den roten Mangold haben sie vor zwei Wochen unter der Folie eingepflanzt, das selbst gebaute Minigewächshaus daneben schützt Salat und Paprika. Der Knoblauch draußen im Beet hat auch erfrorene Spitzen. „Nicht schlimm“, winkt sie ab, „der hält das aus.“
110 Nachbarn haben sie hier. Ist das Miteinander anders als vor drei Wochen? „Natürlich! Wir halten jetzt halt viel Abstand, wir gehören
zur Risikogruppe“, erklärt sie. Und über Hecken hinweg zu plaudern sei merkwürdig, wenn man es doch gewohnt sei, mit dem Ehepaar von nebenan jeden Tag zusammenzusitzen.
Die plötzlich geforderte Distanz macht auch Celali Sari zu schaffen. Zumal sie seinen Job bedroht. Er ist Arbeiter auf dem Terminal 2 des Münchner Flughafens. „Totenstill ist es dort jetzt“, erzählt er. Die Schichten fahren nur 30 Prozent der normalen Arbeitszeit. Immerhin hat er dadurch Zeit für den Schrebergarten der Familie. Tochter Fatma geht in die achte Klasse der Kerschensteiner Mittelschule. Sie ist geknickt. Eigentlich wäre sie jetzt auf Verwandtenbesuch in Ankara, allein, ohne Eltern. „Ich hatte mich so gefreut, es war alles vorbereitet, dann kam das Virus.“
Im Gegensatz zu den Slavkos einen Kiesweg hinter ihnen, die sich Mitte der 2000er bewarben und am nächsten Tag eine Parzelle bekamen, musste Sari vier Jahre warten. Auch derzeit sind beim Stadtverband der Kleingärtner für die 3698 Gartengrundstücke 1300 Interessenten registriert. Höchstens 200 Wechsel gibt es im Jahr, so Reiner Sick von der Geschäftsstelle.
Bei den Saris ist heute Aufräumtag. Auf der Terrasse ist säuberlich nach Gerätekategorie geschichtet, was weg kann. Heckenscheren, Gartenscheren, Schraubenzieher, Zangen. Dilek Sari begutachtet die Motorsäge. „Die brauche ich noch“, entscheidet sie. Die beiden sind Puristen. Im Gegensatz zu den Nachbarn setzen sie auf Funktionalität und Landwirtschaft, blühen tut hier (noch) nichts. Ampfer und Knoblauch haben vorne am Gartentor schon die Erde durchbrochen. Das Ehepaar kauft nichts, jeder Paprika-, Chili- und Tomatensetzling wird daheim selbst angezogen. „Warum soll ich was kaufen, wenn ich es aus einem einzigen Samenkorn produzieren kann“, erklärt der 43-Jährige. Erst im Mai, nach den Eisheiligen, kommt das Gemüse ins Freie.
Wohl dem, der jetzt in der Natur zu tun hat. Arbeit im Schrebergarten bekommt da eine ganz neue Dimension. Dafür gibt es die amtliche Erlaubnis. Das bayerische Innenmija nisterium stellt auf seiner Website klar: „Kleingärten in Kleingartenanlagen dürfen weiterhin genutzt werden. Hier gelten jedoch die gleichen Regeln wie für den Hausgarten.“Menschen aus anderen Haushalten sind nicht erlaubt, Freunde nicht, keine Partys.
Damit kann Johann Keller leben. Er hat Frau und drei Kinder zu Hause gelassen, sein Garten sieht aus wie aus dem Bilderbuch. Kein Grashalm wagt sich über die Gehwegplatten, Tulpen säumen die noch leeren Gemüsebeete. Die kaum mannsgroßen Pflaumen-, Kirschen-, Apfel- und Birnbäume sind für den Frühling getrimmt. Heute wollte er Tomatenpflanzen besorgen, doch das Gartencenter hatte zu. In den letzten drei Wochen hat sich Keller jeden Tag vier bis fünf Stunden hier aufgehalten, hat Rohre und sein Gartentürchen mit der Nummer 12 frisch gestrichen. Die erzwungene Distanz spürt er an der Arbeitsstelle. Sein Arbeitgeber, eine Autosattlerei in Gersthofen, ist auf Kurzarbeit. „Die Arbeit im Garten lenkt mich ab, sie erfüllt mich und hält mich fit. Aber ich mache mir Sorgen darüber, wie und was das Virus uns hinterlässt, wenn es wieder weg ist.“
Rosi Slavko, die aus Kroatien stammt, hat schon eine Epidemie erlebt, 1952. „Damals starben die Leute in unserer Straße reihenweise.“Ihre Familie war die einzige mit Telefon im Haus und der Arzt, mit dem sie nach stundenlangen Versuchen schließlich sprechen konnte, riet der damals 14-Jährigen, die Kranken müssten Knoblauchknollen essen und ein Glas Schnaps trinken. „Das habe ich so überbracht. Ab da ist niemand mehr gestorben“, sagt sie und zuckt die Achseln.