Augsburger Allgemeine (Land West)
Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (4)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Es ist Etzel, als sei dies von folgenschwerer Bedeutung, obwohl er es mit seiner Vernunft nur als Zufallsbegegnung betrachten kann. Herr von Andergast nickt den Knaben zu, stellt eine gleichgültige Frage („Seid ihr schon fertig mit dem Tag!“oder so), ohne im Hinabschreiten innezuhalten; dann fällt sein Blick auf den Mann mit der Kapitänsmütze. Dieser bleibt sofort stehen, mit dem Rücken gegen die Mauer, soldatisch stramm, legt zwei Finger an den Schirm seiner Mütze und sagt mit komisch-krächzendem Ton, militärisch kurz, was gleichfalls komisch wirkt: „Ich heiße Maurizius.“Dabei greift er mit der linken Hand schwerfällig, wegen der augenscheinlichen Starre des Arms, in die innere Tasche seines Pelzrocks und will etwas hervorholen. Herr von Andergast dreht den Kopf, sieht ihn an, eine Sekunde, zwei Sekunden – er hat seine hochmütige Miene und den matten Blick aus halbgeschlossenen Lidern –, sieht ihn an und geht weiter. Dann
wendet er den Kopf noch einmal, die Stirn ist leicht gerunzelt, er macht mit der Hand eine unwillige Gebärde und beschleunigt seinen Schritt. Alles dies hat nicht länger als anderthalb Minuten gedauert, aber Etzel weiß nun bestimmt, daß auch der Vater den Mann mit der Kapitänsmütze kennt, daß er ihn hier auf der Treppe nicht zum erstenmal gesehen hat; aus dem Gesichtsausdruck des Vaters hat er es entnommen, aus der unwilligen Gebärde, aus der Bewegung des Rückens noch und der Art, wie er Stufe um Stufe die Treppe hinuntergeht, während jener Maurizius noch an der Mauer steht, soldatisch stramm, die linke Hand im Innern des Pelzrocks, die Augen mit dem astigmatischen Blick hinab in das Dämmer des Stiegenhauses gekehrt.
Und so war es wirklich: Herr von Andergast hatte den Alten mit seiner trägen Ruhe und späherhaften Beharrlichkeit wiederholt vor sich auftauchen sehen. Es gab viele, die in seinen Weg traten, niemand tat es ohne Scheu, wenige ohne Beklommenheit. Dieser schien weder Scheu noch Beklommenheit zu spüren. Er machte zwar nicht den Eindruck eines Strolches oder eines Deklassierten, ganz und gar nicht; eher erinnerte er an einen Provinzler, der sich in gedrückten Umständen befindet und sich in der Großstadt nicht recht zu bewegen weiß. Dennoch war in seinem Gehaben ein Mangel an Ehrerbietigkeit, eine gewisse Frechheit sogar, die Herrn von Andergast auf die Nerven fiel. Er wußte nicht, wer der Mann war. Er hatte ihn, wie er meinte, nie zuvor erblickt. Eines Tages stand er da wie jemand, der sich um jeden Preis Beachtung ertrotzen will. Es war um die Mittagsstunde. Mit demselben Frösteln, das ihn stets überkam, wenn er das Justizgebäude verließ, und woran an diesem Tag auch die warme Märzsonne nichts änderte, knöpfte Herr von Andergast seinen Mantel zu, bedachte mit blicklosem Nicken den devoten Gruß des Pförtners und trat den Nachhauseweg an. Er legte den Weg täglich zu Fuß zurück. Auf den belebten Straßen war er unzählige Male genötigt, den Hut zu lüpfen; und obwohl er auch diese Zeremonie blicklos ausführte, hatten doch Haltung und Geste jedesmal die Schattierung, die dem sozialen Rang des andern entsprach, vom flüchtigen Berühren der Krempe bis zum Emporheben des Hutes und dem gemessenen kurzen Halbkreis, den er in der Luft beschrieb, um langsam auf das kahle Haupt zurückzukehren. Diese andern aber, wer sie auch sein mochten, Handwerker, kleine Kaufleute, Bankdirektoren, Redakteure, Gutsbesitzer, Stadtverordnete, zeigten bei ihrem Gruß die hastige Beflissenheit, die sie der hohen Funktion des Herrn von Andergast wie auch dem gefürchteten Manne schuldig zu sein glaubten. Gewöhnt an die Reverenz einer ganzen Stadt, ging er kalt durch sie hindurch. Sein steif vorangerichteter Blick nahm an den Bildern der Straße keinen Anteil. Nicht nur das, seine Miene leugnete gleichsam ihre Wirklichkeit, als sei diese Wirklichkeit eine Falle für ihn, als enthalte sie eine verletzende Intimität, und sein Schritt hatte nicht nur das charakteristisch Gehemmte, das Männern eigen ist, die sich hauptsächlich in geschlossenen Räumen bewegen, sondern auch das charakteristisch Vorübergehende derjenigen, die sich beständig gegen Behelligungen zu schützen haben. Und da war nun diese Gestalt am Wege. Ein Unbekannter, der es wagte, ihm, Herrn von Andergast, Leiter der Oberstaatsanwaltschaft, ins Gesicht zu starren. Mit einer Pfeife im Maul. Ihm ins Gesicht zu starren und, wie er ohne sich umzuschauen spürte, ihm zu folgen. Dann, schneller gehend, ihn zu überholen und, an einer Ecke, wieder dazustehen und zu starren. Die Pfeife im Maul. Beispiellos. Den nächsten Tag das nämliche Spiel, die nämliche Unverschämtheit. Drei Tage darauf wieder. Vielleicht war es ein Wahnsinniger, einer der zahlreichen gerichts- und polizeinotorischen Stänkerer, die mit irgendeinem unerfüllten Anspruch herumgehen und die Behörden damit in Atem zu halten suchen. Das klügste war, den Mann zu ignorieren und gelegentlich dem Polizeibeamten des Bezirks einen Wink zu geben. Dann kam die Attacke auf der Treppe. Eindringen ins Haus, das war zu viel, das mußte geahndet, dagegen mußte Vorkehrung getroffen werden. Zunächst überhörte Herr von Andergast den Namen, den der verdächtige Bursche nannte. Als er ihn auffaßte, wandte er unwillkürlich den Kopf noch einmal zurück. Er konnte seine Betroffenheit nicht verbergen.
Am andern Tag wurde auf dem vorgeschriebenen amtlichen Weg das Gesuch eingereicht, das durchaus nicht das erste in dieser Angelegenheit, sondern eine von vielen, sozusagen gewohnheitsmäßigen Belästigungen des Gerichtes aus derselben Quelle war. Damit hatte der ganze Vorgang eine anscheinend harmlose Erklärung gefunden, obschon das dreiste Auftreten des Menschen deshalb nicht minder unbegreiflich blieb. Keinesfalls war die Sache nun weiteren Nachdenkens mehr wert. Unlöslich vermengte sich in Etzels Geist die Erscheinung des Mannes mit der Kapitänsmütze, besonders das unerwartete und dabei planvoll wirkende Zusammentreffen mit dem Vater auf der Treppe und das Bild des Briefes mit dem Schweizer Poststempel und der vertraut zu ihm redenden Handschrift. In beiden Geschehnissen forderte ihn etwas auf oder heraus; der Unterschied lag nur darin, daß jenes ganz außen, dieses ganz innen blieb, so daß er sich zwischen ihnen wie ein schwingendes Pendel vorkam. Beides aber verwirrte ihn tief und zog seine Gedanken von der gewöhnlichen Beschäftigung und dem täglichen Pflichtendienst dermaßen ab, daß er eines Vormittags, statt mit dem mechanischen Gedächtnis der Beine den Weg zum Gymnasium einzuschlagen, in die entgegengesetzte Richtung ging, immer weiter, wie traumverloren, im Bockenheimer Bahnhof seinen Bücherpack deponierte und in den Taunus hinausfuhr. »5. Fortsetzung folgt