Augsburger Allgemeine (Land West)
Walter Kempowski auf der Bühne
Ein Privattheater widmet sich dem Roman-Zyklus „Deutsche Chronik“
Hamburg Der Niedergang des deutschen Bürgertums in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und die Zerstörung Rostocks durch alliierte Bomber 1942 haben Walter Kempowski sein Leben lang nicht losgelassen. In den neun Romanbänden seiner „Deutschen Chronik“(1971 – 1984) hat der preisgekrönte Schriftsteller (1929 – 2007) den Bürgern und seiner Heimatstadt ein Denkmal gesetzt – anhand seiner Herkunft, der einst wohlhabenden Reederfamilie Kempowski – und in einem eigenen, collageartigen Erzählstil, der Erinnerungen und politische Entwicklungen lakonischhumorvoll mischt.
Grund für den umtriebigen Direktor des privaten Altonaer Theaters in Hamburg, Axel Schneider, sich der Chronik mit ihren tausenden von Seiten anzunehmen – und in einem Mammut-Erinnerungsprojekt zu konzentrieren. Vier Teile sollen es in Schneiders Bearbeitung und unter seiner Regie werden – an diesem Wochenende fanden die beiden ersten Premieren statt. Zum gelungenen Auftakt des Projekts, das auch von der Kulturstiftung des Bundes und dem Hamburger Mäzen Jan Philipp Reemtsma unterstützt wird, geriet am Samstag die Uraufführung „Aus großer Zeit“. Ein Verdienst auch der neun hinreißenden Darsteller, von denen einige in bis zu zehn Rollen schlüpften – allen voran Johan Richter, der als aufgeweckter junger Erzähler Walter durch die Bühnengeschichte führt.
Auf schräg nach vorn gekippter Bühne zeichnet Axel Schneider unter matt schimmerndem Kronleuchter und bei wenigen Requisiten in teils an alte Fotografien erinnernden Bildern das Geschehen von der Kaiserzeit bis in die 30er Jahre. Man erlebt eine perfekt getimte, mit Musik der Zeit angereicherte Szenenfolge, in der die Mentalität und die Erlebnisse der Kempowskis und ihrer Hamburger Verwandtschaft aufgezeigt werden. Dabei entsteht ein Erzählfluss, der drei Stunden lang kurzweilig in Bann zieht. Komik und Katastrophe liegen hier, wie in den Büchern, eng beieinander.
Zunächst ist noch Kaiserzeit. Man trägt bodenlange Kleider und Matrosenanzug, macht Urlaub in Strandburgen an der Ostsee. „Helden gibt’s nur im Felde“lautet einer der vielen Kempowski-typischen Sätze, mit denen damals junge Männer aufgezogen wurden. Und so etwas wie Vorläufer rassistischer Vorurteile vermag der Zuschauer auch schon zu erkennen: Die Mecklenburger mögen zwar die Hamburger, aber viel weniger die als hinterwäldlerisch erachteten Pommern. Wie stellt man Weltkrieg dar? Diesen Gedanken muss sich der Erzähler bald machen. Und er lässt die männlichen Akteure im imaginären Flandern mal in einer Rauchwolke verschwinden, mal sich auf dem Boden winden und bei Kanonendonner die Ohren zupressen. Schon der Erste Weltkrieg wird dauerhaft körperlich und seelisch beschädigen.
Wie dann die wirtschaftliche Not der 20er Jahre den Boden für die Nazis bereitet, schildert der Abend unaufgeregt. Ein Dr. Kleesaat (Dirk Hoener) vom Stammtisch der Offiziere bewundert Hitlers klare Ansagen. Er fordert, dass man statt „Guten Tag“nun „Treudeutsch“sage. Deutsche Menschen – liebenswert in vielen Eigenarten, aber auch tödlich in ihrer Borniertheit – sind Täter und Opfer zugleich. Wie die Geschichte weitergeht, war gestern Abend bei der Premiere von „Tadellöser & Wolff“zu erleben. Die Teile drei und vier sollen im Frühjahr 2019 folgen.