Augsburger Allgemeine (Land West)
Von der Welle kommt er nicht mehr los
Hinein ins Wasser: Der Kriegsreporter William Finnegan schreibt über seine Leidenschaft als Surfer
Es gibt Leidenschaft und Besessenheit. Beides kann einen umbringen. Es gibt Leichtsinn und Wahnsinn und Todesverachtung. Deren Sog kann einen erst recht verschlingen. Aber dann sind da – davor und danach und auf ewig – auch noch Wellen. Erheben sich aus der Dünung, rollen heran, türmen sich, brechen irgendwann, laufen aus. Meisterwerke aus Wasser und Wind. Überirdisch und erhaben. Zerschellende Gottesbeweise, die man dann – verdammt noch mal – surfen muss.
William Finnegan glaubt schon lange nicht mehr an Gott, aber an Wellen, das schon. Denen pilgert er rund um den Globus nach, neigt vor ihnen das Haupt. Und paddelt raus. Finnegan, Kriegsreporter des New
Yorker und in jungen Jahren dem Surfen verfallen, hat sich ihnen sowas von verschrieben, dass die Lektüre seiner Autobiografie „Barbarentage“sich wie die Krankenakte eines alten, nie abkühlenden Fiebers liest. Zwar mit viel Fachvokabular, zugleich aber lässig, nie berufsjugendlich, auch episch und insgesamt: perfekt ausbalanciert.
Finnegan beginnt mit dem Surfen so richtig auf Hawaii, wo sein Vater in den Fünfzigern als Fernsehproduzent angeheuert hat. Wenn der Junior sich nicht gerade mit den Schulgangs rumprügeln muss, zeichnet er auf der Schulbank Bretter in seine Hefte und schielt dabei aus dem Fenster nach Wind und Wellen. Und man kann schon sagen, dass es dabei im Wesentlichen ein Leben lang geblieben ist. Egal, ob als Student, erst recht als Wellenweltreisender (Wanderjahre mit Shortboard von Maui aus in den Südpazifik, nach Australien), ob später als Lehrer im von der Apartheid gespaltenen Südafrika, noch später als Kriegsreporter und irgendwann als in New York sesshafter Familienvater.
Wellen sind für Finnegan die ewige Versuchung jenseits der Bürotüre. Sie verlangen Sachkenntnis, genaues Studium, Athletik, zähe Disziplin, präzises Gespür für Timing, die eigene Tagesform und die Bereitschaft, sich im Weißwasser existenziell und immer wieder durchwaschen zu lassen (wer das präziser beschrieben haben will, steigt am besten gleich hier schon auf Finnegan um). Übrigens auch bei knapp über null Grad und sehr steifer Brise.
Echte Surfer, Big-Wave-Surfer, sind wirklich harte Hunde, „gnarly dudes“, die sich im Line-Up prügeln, um ihre Härte allerdings kein großes Gewese machen. Auch wenn die Welle mehrere Busse hoch ist, wird sie immer und grundsätzlich ein paar Fuß niedriger geschätzt. Understatement ist alles. „Barbarentage“ist deshalb – ungewollt, weil im Original bereits 2015 erschienen – zugleich ein wunderbarer Kommentar zur Großmäuligkeit, mit der der alte Mann im Weißen Haus gerade den Planeten bedröhnt. Und es ist – passagenweise – das Porträt einer knorrig-ritterlichen, anachronistisch anmutenden, aber irgendwie auch fehlen werdenden Männlichkeit. Ohne große Worte. Und doch brillant geschrieben.
„Barbarentage“ist ein Buch über Haltung. Über den Zugang zu fremden Ländern. Über den absoluten Willen, die eigene Angst wieder und wieder zu überwinden, über die Versagensscham, wenn man sich nicht raus getraut hat. Über wachsendes Verantwortungsgefühl, wenn am Horizont das nächste Set heranrollt. Und die kleine Tochter zu Hause auf Papa wartet.
Wer mit Finnegan aufs Brett steigt, reitet die Welle bis zum Ende. Und wenn man danach auch nicht voller Adrenalin ist, so doch allzu bereit, in den nächsten Flieger zu steigen und sich irgendwo in die Brandung zu stürzen. Ein Albtraum übrigens für die, die sich wie Finnegan wirklich, auskennen. Die Wellen brauchen nicht noch mehr überbevölkernde Club-Med-Touristen, die sich den Neopren-Anzug nicht allein zuziehen können. Denn Finnegan braucht noch mehr einsame Wellen. Ob er will oder nicht. Aber er will eigentlich immer.
» William Finnegan: Barbarentage. Suhrkamp, 566 Seiten, 18 Euro