Augsburger Allgemeine (Land West)
Heute ist ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte
Die Berliner Mauer ist nun genauso lang weg, wie sie stand. Was bedeutet das für unser Erinnern?
Berlin Am Checkpoint Charlie in Berlin wird die Geschichte immer teurer. Ein Foto mit einem falschen US-Soldaten und Flagge kostet mittlerweile drei Euro pro Person. Den früheren Grenzkontrollpunkt an der Friedrichstraße passierten einst Diplomaten, heute stehen dort Laiendarsteller vor einem nachgebauten Haus. Drumherum: Touristen und was von der Mauer übrig blieb. Am heutigen Montag ist die Mauer nun genauso lange weg, wie sie da war. Zwei gleich lange Abschnitte deutscher Geschichte: 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage. Am 13. August 1961 erst mit Stacheldraht und später mit immer mehr Beton hochgezogen, am 9. November 1989 friedlich überwunden.
Die meisten Bundesbürger können sich noch genau an die Zeit der Teilung aus eigenem Erleben erinnern. So auch Hans-Joachim Lietsche, der auf seine Besuchergruppe wartet. Der 57-Jährige will den danach geborenen Schülern erklären, wie die DDR-Staatssicherheit Menschen wie ihn einsperrte, weil sie nicht auf Linie waren. „30 Jahre hab’ ich meine Haft verdrängt“, sagt der gelernte Bau- und Kunstglaser. Wo er jetzt steht, war früher die Untersuchungshaftanstalt der Stasi.
Heute ist die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen der einzige Ort, an dem der Frührentner über damals reden kann, über die Zelle ohne Fenster, die Isolation und Angst. Paragraf 220, Herabwürdigung staatlicher Organe, sei sein Vergehen gewesen, neun Monate Haft. Er habe eine Staatsanwältin als „blöde Kuh“beschimpft. Gesucht habe er die Frau nie: „Ich habe keinen Sinn für Rache.“
Von dem Betonwall, der einst das Leben der Berliner trennte, stehen heute noch Reste. Für die junge Generation ist Stadtführer Markus Müller-Tenckhoff nach eigenen Worten fast ein Geschichtslehrer. „Wenn ich junge Menschen durch Berlin führe, stellen die ganz andere Fragen. Daran erkennt man, dass die Mauer für die Geschichte ist.“Die erste Frage: Wie lange hat es gedauert, die Grenze zu bauen? „Die meisten denken, es waren die Russen und nicht die Deutschen“, sagt Müller-Tenckhoff. „Man muss dann weit ausholen und die grundsätzliche Nachkriegsgeschichte mit den Alliierten erläutern.“SED-Chef Walter Ulbricht ging als „Mauerbauer“in die Geschichte ein. Noch kurz vorher täuschte er die Weltöffentlichkeit: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
„Das Zeiterleben ist individuell sehr unterschiedlich“, sagt der Psychologe Klaus Seifried. Er hat 26 Jahre als Schulpsychologe gearbeitet. „Junge Leute können sich das Leben vor 30 oder 40 Jahren kaum vorstellen.“Wenn er Besuch habe und mit jungen Menschen zur Mauer-Gedenkstätte Bernauer Straße gehe, sei das für sie ähnlich fern wie der Zweite Weltkrieg. Das sei dann so, als wenn seine Eltern von der Zeit vor oder während des Krieges erzählt hätten. „Die sinnliche Erfahrung fehlt.“Wenn den älteren Deutschen die Zeit mit Mauer länger vorkommt als der Abschnitt seit dem Mauerfall, kann das laut Seifried auch am subjektiven Empfinden und dem heutigen Tempo liegen. Internet, Smartphones, Globalisierung, Mobilität – all das hat den Alltag beschleunigt. „Wenn wir uns erinnern, nehmen wir die Zeit dann als kürzer wahr, wenn viel passiert, wenn sich viel verändert“, sagt Seifried. Und manche Menschen in Ostdeutschland fühlten sich noch heute benachteiligt. Sie verweisen auf niedrigere Renten, sterbende Dörfer, abgewanderte Fachkräfte. Es gibt eine „Ostalgie“, obwohl der Lebensstandard seit 1989 gestiegen, die Arbeitslosigkeit wieder gesunken ist und Kommunen herausgeputzt wurden. „Menschen neigen dazu, dass sie positive Dinge erinnern und negative vergessen oder relativieren. Bestimmte Dinge werden verklärt – sowohl in Ost als auch West“, sagt der Psychologe Seifried.