Augsburger Allgemeine (Land West)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (48)
Nämlich dass es manchen gelungen sei, unter besonderen Umständen einen Aufschub zu erhalten. Dass das eine Möglichkeit für Kollegiaten aus Hailsham ist. Dass man als Hailshamer darum bitten kann, den Spendenbeginn drei, sogar vier Jahre zurückzustellen. Dass es nicht einfach ist, aber manchmal, in seltenen Fällen, erteilen sie einem die Erlaubnis. Solang man nur überzeugend ist. Solang man infrage kommt.“
Chrissie verstummte, und wieder wanderte ihr Blick reihum, vielleicht der dramatischen Wirkung halber, vielleicht weil sie auf ein Zeichen der Bestätigung hoffte. Tommy und ich blickten sicher verwirrt drein, aber Ruth hatte eine ihrer unergründlichen Mienen aufgesetzt – unmöglich zu sagen, was in ihr vorging.
„Dort in Wales“, fuhr Chrissie fort, „sagten sie, wenn ein Junge und ein Mädchen einander wirklich lieben, wirklich und echt lieben, und wenn sie’s auch beweisen können,
dann würden es die Leute, die Hailsham leiten, für die beiden richten. Sie würden es so einrichten, dass die zwei noch ein paar Jahre zusammen haben, bevor sie mit dem Spenden anfangen.“
Es herrschte eine seltsame Stimmung am Tisch, wie ein rundum laufendes nervöses Prickeln.
„Als wir in Wales waren“, sprach Chrissie weiter, „bei den Kollegiaten im White Mansion. Dort hatten sie von diesem Hailsham-Paar gehört, der Typ hatte nur noch ein paar Wochen, bis er Betreuer werden sollte. Und sie gingen irgendwohin und brachten es fertig, dass alles um drei Jahre zurückgestellt wurde. Sie durften weiter zusammenleben, oben im White Mansion, drei ganze Jahre, mussten nicht mit der Ausbildung weitermachen oder sonst was. Drei Jahre, die sie nur für sich hatten, weil sie beweisen konnten, dass sie einander wirklich liebten.“
An dieser Stelle fiel mir auf, dass Ruth mit großem Nachdruck nick- te, Chrissie und Rodney bemerkten es ebenfalls, und ein paar Sekunden lang starrten sie Ruth wie hypnotisiert an. Und ich hatte so etwas wie eine Vision von Chrissie und Rodney, wie sie zu Hause in den Cottages, während der Monate, die auf diesen Augenblick hingeführt hatten, das Thema immer wieder anschnitten, wie sie es hin und her wandten. Ich sah sie direkt vor mir, wie sie es aufgriffen, erst nur zögernd, achselzuckend, wie sie es gleich wieder verwarfen, aber nie ganz beiseite schieben konnten. Ich sah sie vor mir, wie sie mit der Idee spielten, uns darauf anzusprechen, sah sie sich einen Plan zurechtlegen, wie sie vorgehen, was genau sie sagen sollten. Wieder blickte ich Chrissie und Rodney an, die mir gegenübersaßen und an Ruths Lippen hingen, und versuchte ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Chrissie wirkte bang und hoffnungsvoll zugleich, Rodney gereizt und nervös, als traute er sich nicht so recht und fürchtete, jeden Moment mit irgendetwas herauszuplatzen, das er besser nicht gesagt hätte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich das Gerücht von den Zurückstellungen hörte. Während der letzten paar Wochen hatte ich in den Cottages immer öfter Fetzen von Gesprächen aufgeschnappt, die sich darum drehten. Es waren Gespräche der Veteranen untereinander, und wenn einer von uns aufkreuzte, schauten sie betreten drein und verstummten. Aber ich hatte genügend mitbekommen, um zu wissen, worum es ging; und ich wusste, dass es speziell mit uns Hailsham-Schülern zu tun hatte. Aber erst an diesem Tag, in dem Café an der Küste, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich begriff, wie enorm wichtig das Thema für manche Veteranen geworden war.
„Ich nehme an“, sagte Chrissie, und ihre Stimme flatterte ein wenig, „ihr wisst Bescheid. Über die Regeln und das alles.“
Sie und Rodney sahen uns der Reihe nach an, dann kehrten ihre Blicke zu Ruth zurück.
Ruth hielt kurz inne und seufzte: „Na ja, das eine oder andere haben sie uns natürlich gesagt. Aber es ist nicht so, dass wir uns groß auskennen. Wir haben eigentlich nie viel darüber geredet. Wie auch immer, wir sollten uns bald auf den Weg machen.“
„An wen wendet man sich?“, fragte Rodney plötzlich. „Was haben sie euch gesagt, wo ihr hinmüsst, wenn ihr, na ja, wenn ihr euch bewerben wollt?“
„Ich hab’s dir doch gesagt. Es wurde nicht groß darüber geredet.“Beinahe instinktiv wandte Ruth sich an Tommy und mich, als bitte sie uns um Unterstützung, was vermutlich ein Fehler war.
„Um ehrlich zu sein, ich weiß überhaupt nicht, wovon ihr redet“, sagte Tommy. „Was sollen das denn für Regeln sein?“
Ruth durchbohrte ihn mit einem Blick, und ich warf rasch ein:
„Du weißt schon, Tommy. Dieses Gerede, das in Hailsham die Runde gemacht hat.“
Tommy schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich nicht“, sagte er ausdruckslos. Und diesmal sah ich – und Ruth sah es ebenfalls –, dass er nicht wie sonst auf der Leitung stand. „Ich erinnere mich nicht, dass in Hailsham je so was gewesen wäre.“
Ruth wandte sich von ihm ab. „Ihr müsst eines wissen“, sagte sie zu Chrissie, „nämlich dass Tommy zwar in Hailsham war, aber nicht wie ein echter Hailshamer ist. Er war immer ein Außenseiter, und die anderen haben dauernd über ihn gelacht. Es hat also keinen Sinn, ihn irgendwas in der Richtung zu fragen. So, und jetzt möchte ich gehen und diese Person suchen, die Rodney gesehen hat.“In Tommys Augen erschien ein Ausdruck, der mir für einen Moment den Atem verschlug. Es war ein Blick, den ich lange nicht mehr an ihm wahrgenommen hatte, er gehörte zu jenem Tommy aus früheren Zeiten, der in einem Klassenzimmer verbarrikadiert werden musste, während er drinnen Pulte umwarf. Dann verschwand der Ausdruck wieder, Tommy wandte das Gesicht zum Himmel und stieß schwer den Atem aus. Die Veteranen hatten nichts davon bemerkt, weil Ruth im selben Moment aufgestanden war und mit ihrer Jacke hantierte. Wir anderen schoben alle gleichzeitig unsere Stühle von dem kleinen Tisch zurück, und so entstand ein gewisses Durcheinander. Da ich die gemeinsame Kasse verwaltete, ging ich zur Theke, um zu zahlen. Die anderen schritten an mir vorbei und verließen hintereinander das Lokal, und während ich auf das Wechselgeld wartete, beobachtete ich sie durch eine der großen beschlagenen Scheiben, wie sie draußen in der Sonne herumstanden, wortlos, und aufs Meer hinunterschauten.
Kapitel 14
Als ich hinaustrat, spürte ich sofort, dass die ursprüngliche Begeisterung komplett verflogen war. Schweigend schlurften wir dahin, Rodney voraus, durch enge Seitengassen, in die kaum Sonnenstrahlen eindrangen. Die Gehsteige waren so schmal, dass wir uns oft nur im Gänsemarsch fortbewegen konnten. »49. Fortsetzung folgt