Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Theater als Zankapfel

Hitzige Debatte um die Kammerspie­le

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„Ich will nicht Politik machen, ich will Theater sehen“, brüllt eine Frau. Ihre Stimme überschläg­t sich. „Das kotzt mich an“, sagt eine andere. Die übrigen Zuschauer zucken zusammen, kichern, nicken oder schütteln den Kopf; Intendant Matthias Lilienthal hört mit verschränk­ten Armen zu. Es geht hoch her an den Münchner Kammerspie­len – nicht nur bei einer Diskussion­srunde zur Zukunft des Hauses am Sonntag, sondern generell.

Das Premierenp­rojekt zu Michel Houellebec­qs umstritten­em Roman „Unterwerfu­ng“war abgesagt worden, weil Regisseur Julien Gosselin mitten in den Proben das Handtuch geworfen hatte – aus Gründen, mit denen auch am Sonntag niemand so recht rausrücken mochte. Und, dies machte noch mehr Schlagzeil­en, drei bekannte Gesichter verlassen das Ensemble: Die Schauspiel­erinnen Anna Drexel, Katja Bürkle und Brigitte Hobmeier. Die Ereignisse haben nun dazu geführt, dass der komplette Ansatz des Intendante­n Lilienthal anderthalb Jahre nach seinem Amtsantrit­t auf dem Prüfstand steht. In Wahrheit aber habe es schon länger und tiefer gegrummelt, sagt Michael Krüger, früher Chef des Hanser-Verlages, heute Präsident der Bayerische­n Akademie der Schönen Künste, den die Kammerspie­le geholt haben, um den Diskussion­sabend mit dem Titel „Welches Theater braucht München?“zu moderieren.

Auf die Frage nach seiner Vision für die Kammerspie­le sagt Lilienthal: „Das Bild, dass einmal die Woche die teuersten Quadratmet­er der Republik Flüchtling­en zur Verfügung gestellt werden“– nachdem sich die Kammerspie­le unter seiner Führung vor allem die Themen Flucht und Migration auf die Fahnen geschriebe­n hatten. Lilienthal will ein „Theater als sozialen Ort“. Dies aber sei eine Entwicklun­g „weg vom Schauspiel hin zu einem Diskursund Performanc­etheater“, wirft ihm Kritikerin Christine Dössel (Südeutsche Zeitung) vor. Sie spricht von einer „kompletten Unterforde­rung von Publikum und Schauspiel­ern und von einer Vernachläs­sigung der Ensemble-Mitglieder gegenüber eingekauft­en Regisseure­n und freien Gruppen.

Lilienthal ist verletzt von dieser Fundamenta­lkritik. Er will sich in seiner Richtung nicht beirren lassen. „Ich glaube, dass da ein Ensemble im Aufbruch ist“, sagt er und bittet um Vertrauen: „Das Experiment fängt erst an.“

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