Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Träge Republik Deutschland
Wenn Bürokratie auf Veränderungswillen trifft: Gefährdet unsere organisierte Umständlichkeit die Energiewende und die Reform der Bundeswehr?
Selten hat ein Politiker sich so geirrt. Innerhalb von nur vier Jahren, versprach der spätere Wirtschaftsminister Peter Altmaier im Wahlkampf 2017, werde Deutschland die bürgerfreundlichste Verwaltung in ganz Europa haben: effizient, digital, rechtssicher. Zwölf Flaschen guten Grauburgunders bot der CDU-Mann damals allen Zweiflern als Wetteinsatz an. Wenn der Staat es ernst meine, fügte er dann noch hinzu, dürfe er Geburts- oder Sterbeurkunden heute nicht mehr so ausstellen wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten.
Fünf Jahre später ist Deutschland alles andere als ein unbürokratisches Musterland. Die Corona-Krise, in der sich Behörden teilweise noch per Fax miteinander verständigten, hat die Schwächen des Staates schonungslos offengelegt. So schnell die Politik in Krisenzeiten im Bereitstellen von Geld ist, so umständlich ist die öffentliche Verwaltung häufig im Umgang damit. Für die Großprojekte der Regierung, die Energiewende und die Modernisierung der Bundeswehr, verheißt das nichts Gutes. Hier wie dort stehen dreistellige Milliardensummen im Raum, hier wie dort aber ist die Macht des Faktischen oft stärker als die der Politik.
Beispiel Energiewende: Viele Hausbesitzer schrecken heute vor der Installation einer Photovoltaikanlage auf ihren Dächern zurück, weil sie damit zu Unternehmern mit all den dazugehörigen Dokumentationsund Berichtspflichten werden können. Dazu kommen lange Planungsverfahren und komplizierte Ausschreibungspflichten für größere Projekte, während es weiten Teilen der Politik gleichzeitig mit dem Ausbau der Erneuerbaren nicht schnell genug gehen kann. Diesen Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufzulösen, ist auch den Grünen bisher nicht gelungen. Mit dem gegenwärtigen Katalog an Gesetzen, Verordnungen und Auflagen ist die
Energiewende keine Frage von Jahren, sondern von Jahrzehnten.
Noch bürokratischer geht es bei der Bundeswehr zu, deren Beschaffungsregeln mitunter wirken, als habe der Stadtschreiber von Schilda sie persönlich formuliert. Warum, zum Beispiel, muss eine Waffe, die in einem anderen NatoLand bereits zugelassen und im Einsatz ist, vor der Anschaffung für die Bundeswehr noch einmal ein ähnliches Verfahren durchlaufen? 100 Milliarden Euro für die Runderneuerung der Truppe bereitzustellen, ist das eine, sie effizient und punktgenau einzusetzen, etwas ganz anderes. In kaum einem Einflussbereich des Staates geht es umständlicher und unwirtschaftlicher zu als bei der Bundeswehr. Das Ergebnis: zu wenig Material – und viel zu viel Bürokratie. Um einen Zugang zum Intranet der Bundeswehr
zu bekommen, benötigte der frühere Wehrbeauftragte HansPeter Bartels einst drei Jahre.
Ob Corona, die Energiewende oder jetzt der Krieg in der Ukraine: Es sind die großen Krisen, die den Blick für das Wesentliche schärfen. Der deutsche Staat, lange Zeit der Inbegriff für Gründlichkeit und eine funktionierende Ordnung, ist träge geworden, und das liegt nicht nur am ständigen Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern oder der geradezu manischen Lust, jedes Problem gleich mit einem neuen Gesetz lösen zu wollen. Die Apparate nähren sich, siehe Bundeswehr, allzu häufig auch selbst. Diese Saturiertheit zu überwinden, das Land von seiner organisierten Umständlichkeit zu befreien, es schneller und digitaler zu machen, sollte nun eigentlich eine der dringendsten Aufgaben der neuen Regierung sein. Am Beispiel der Bundeswehr kann sie zeigen, wie ernst es ihr mit der Modernisierung ist. Ein erster Schritt wäre die Auflösung des Koblenzer Beschaffungsamtes. Es ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Häufig nährt der Apparat sich selbst