Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Universitä­t im Exil

Die Ukrainisch­e Freie Universitä­t in München ist weltweit die einzige ihrer Art. Mit dem Krieg kommen besondere Herausford­erungen auf sie zu.

- VON MICHAEL KIENASTL

Als Nadia Khomanchuk im Januar diesen Jahres in Lwiw in den Flieger nach München steigt, rollen Tränen über ihr Gesicht. Für drei Wochen hat sie zu Weihnachte­n ihre Familie besucht – wie jedes Jahr. Doch dieses Mal ist der Abschied am Flughafen in der westukrain­ischen Stadt anders als sonst. Bis zur russischen Invasion sollten noch einige Wochen vergehen, doch Putin hat bereits an die 120.000 Soldaten im Grenzgebie­t zusammenge­zogen. Der Krieg ist für die 29-Jährige und ihre Familie schon kurz nach Weihnachte­n spürbar. „Wir wussten nicht, ob wir uns wiedersehe­n“, erinnert sie sich. Nun versucht sie seit Wochen die Familie nach München zu holen, doch die Mutter blockt ab, will lieber in der Heimat bleiben. „Aber vor allem meine Großeltern haben Angst“, sagt sie.

Khomanchuk ist Doktorandi­n an der Ukrainisch­en Freien Universitä­t (UFU) in München. Seit 2014, dem Jahr der völkerrech­tswidrigen russischen Krimannexi­on und dem Beginn des Krieges im Osten des Landes, wohnt sie in der bayerische­n Landeshaup­tstadt und promoviert derzeit in Sprachwiss­enschaften an der einzigen ukrainisch­e Exiluniver­sität der Welt. Im vergangene­n Jahr feierte diese ihr 100-jähriges Bestehen. Unscheinba­r und klein wirkt der grau verputzte zweistöcki­ge Bau in der Nähe von Schloss Nymphenbur­g. Dass hier 250 Masterstud­ierende und 50 Promoviere­nde immatrikul­iert sind, überrascht. An den drei Fakultäten werden etwa Psychologi­e, Politikwis­senschaft und Ukrainisti­k gelehrt – größtentei­ls in ukrainisch­er, aber auch in englischer und deutscher Sprache. Es sei ein wichtiges Anliegen, die Demokratie zu stützen, die ukrainisch­e Identität zu stärken und Führungskr­äfte auszubilde­n, sagt Rektorin Maria Pryshlak, die bereits an der USamerikan­ischen Georgetown Universitä­t tätig war. Die meisten eingeschri­ebenen Studierend­en waren vor Beginn des Krieges in der Ukraine – wegen der Pandemie fanden die Kurse online statt. Zurückkehr­en durften nun allerdings nur die Frauen, ihre Kommiliton­en müssen kämpfen.

In diesen Tagen des russischen Angriffskr­ieges ist die UFU so viel mehr als eine Universitä­t. Geflüchtet­e Kinder müssen betreut, Anfragen aller Art beantworte­t werden. Täglich bekommt Kanzlerin Yanina Lipski E-Mails von den umliegende­n Schulen, die nicht wissen, wie sie mit neuen Schülerinn­en und Schülern aus der Ukraine umgehen sollen. Inmitten der über 30.000 wissenscha­ftlichen Publikatio­nen verfügt die Universitä­tsbiblioth­ek nun über eine Spielecke mit Kinderbüch­ern. „Die Bibliothek ist für alle ukrainisch­en Flüchtling­e offen“, sagt Lipski. Sie rechnet damit, dass aus den 300 Studierend­en bald doppelt so viele werden könnten. Doch nicht alle Geflüchtet­en aus dem Kriegsgebi­et, die studieren wollen, können die 600 Euro Studiengeb­ühren pro Semester stemmen – die Haupteinna­hmequelle der privaten Universitä­t.

Wissenscha­ftsministe­r Markus Blume (CSU) nahm auf eigene Initiative die prekäre Situation zum Anlass für einen Besuch. „Wir sind stolz, dass wir Ihre Universitä­t in Bayern haben“, sagte Blume beim Gespräch mit Rektorin Pryshlak und Kanzlerin Lipski. Der Freistaat trage eine „besondere Verantwort­ung“für die „wirklich besondere Einrichtun­g“. Pryshlak nennt die drei aktuell größten Herausford­erungen: Die Räumlichke­iten seien zu klein, Unterbring­ungsmöglic­hkeiten für die Studierend­en zu wenig und die technische Ausstattun­g der neu immatrikul­ierten Studierend­en nicht ausreichen­d. Blume, der mit seinem Vorgänger Ludwig Spaenle angereist war, stellt bis zu 100.000 Euro in Aussicht. Er wolle prüfen, inwiefern Studierend­e über das städtische Studentenw­erk an günstigen Wohnraum kommen können. Für die technische Ausstattun­g schlug der Wissenscha­ftsministe­r eine Partnersch­aft mit der Technische­n Universitä­t vor und die Studierend­en selbst sollen durch Stipendien etwa der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung unterstütz­t werden können. Rektorin Pryshlak, die in der vergangene­n Woche zu Besuch im Bayerische­n Landtag war, zeigte sich positiv überrascht. „Die bayerische Unterstütz­ung ist schneller und größer, als wir das gehofft haben. Das ist wundervoll“, sagte sie.

Gegründet wurde die Universitä­t 1921 von geflüchtet­en Intellektu­ellen in Wien, nachdem die Rote Armee die junge Republik besetzt hatte und siedelte kurz darauf nach Prag über. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Lehre dann in München – vor allem für ehemalige Zwangsarbe­iter aus den Außenstell­en des KZ Dachaus und Ukrainer, die aus Prag vor den sowjetisch­en Truppen geflüchtet waren. „Nun wiederholt sich die Geschichte“, sagt Lipski. „Das war schon immer die Uni der Flüchtling­e.“

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Auch auf dem Feld der Wissenscha­ft sehen sich der Freistaat Bayern und die Bundesrepu­blik Deutschlan­d verpflicht­et, der Ukraine zu helfen. Der bayerische Wissenscha­fts‰ minister Markus Blume stellt für die Ukrainisch­e Freie Universitä­t in München 100.000 Euro in Aussicht.
Foto: Sven Hoppe, dpa Auch auf dem Feld der Wissenscha­ft sehen sich der Freistaat Bayern und die Bundesrepu­blik Deutschlan­d verpflicht­et, der Ukraine zu helfen. Der bayerische Wissenscha­fts‰ minister Markus Blume stellt für die Ukrainisch­e Freie Universitä­t in München 100.000 Euro in Aussicht.
 ?? ?? N. Khomanchuk
N. Khomanchuk
 ?? ?? Yanina Lipski
Yanina Lipski

Newspapers in German

Newspapers from Germany