Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Mensch Mahler

Robert Seethalers neuer Roman kreist um den Komponiste­n kurz vor seinem Tod. Nicht ganz kitschfrei, aber bestseller­tauglich

- VON STEFANIE WIRSCHING » Robert Seethaler: Der letzte Satz. Hanser, 126 S., 19 ¤

Ein alter Mann und das Meer. Fliegende Fische würde er gerne einmal sehen. Wie sie mit silbernen Flügeln die Wasserober­fläche durchstoße­n, durch die Luft segeln. Aber so lange er auch auf dem Deck des Schiffes sitzt, er sieht keine. „Es gab nur das Wasser und vierzigtau­send Tonnen Stahl“, sinniert der in eine Wolldecke eingemummt­e Passagier. Die Hoffnung, dass das Leben noch eine gute Wendung für ihn bereithalt­en könnte, und sei es nur der Anblick von Fliegenden Fischen, ist ihm da aber auch schon nahezu abhandenge­kommen. Und ohnehin, „vielleicht war das mit den Fliegenden Fischen nur ein Märchen.“

Ein alter Mann und das Meer also, wobei so alt der Mann gar nicht ist. Fünfzig Jahre im Frühjahr 1911, aber Gustav Mahler ist sterbenskr­ank, er hustet Blut, das Fieber, „ein Stück heißes Eisen hinter der Stirn“, hat ihn wieder. Wenige Monate nach dieser Überfahrt auf der „Amerika“von New York zurück nach Europa wird der große Komponist in Wien an einer bakteriell­en Herzentzün­dung sterben.

In Robert Seethalers eben erschienen­em Roman „Der letzte Satz“ist diese Fahrt schon so etwas wie der Übergang vom Dasein ins Jenseits: Nichts zu sehen außer Himmel und Meer, umso detailreic­her dafür die Bilder aus der Erinnerung, in die sich Mahler auf dem eigens für ihn abgetrennt­en Bereich auf dem Sonnendeck nun verliert. Nur ab und an taucht in den von Seethaler beschriebe­nen Stunden ein Schiffsjun­ge auf, bringt Tee, bringt Decken, bringt Anweisunge­n von Ehefrau Alma, die unter Deck mit Tochter Anna frühstückt, befragt den berühmten Mann, von dem er nicht viel weiß, nur dass er wohl eine Art Direktor ist. Ansonsten: Einsamkeit. „Er blickte sich um. Er war allein.“

Seethaler also hat wieder einen Seethaler-Roman geschriebe­n, mit dieser kunstvoll verknappte­n, allen Schnörkeln entkleidet­en SeethalerS­prache, mit Seethaler-Protagonis­ten – auch Sigmund Freud, bei dem Mahler sich wegen seiner Ehekrise beraten ließ, hat wieder seinen Auftritt – mit literarisc­hen SeethalerK­niffen wie jenem unschuldig­en Schiffsjun­gen als Zuhörer, und mit Seethaler-Blick: Wie zuletzt im Vorgängerw­erk „Das Feld“rollt er das Leben wieder vom Ende auf. In „Das Feld“fügte er Stimmen der verstorben­en Paulstädte­r Bürger zu einer Art Chor zusammen, ließ sie über Enttäuschu­ngen, Dramen, Glück und Liebe erzählen. Nun schließt sich in „Der letzte Satz“der todkranke Gustav Mahler an, lässt Erinnerung­ssentenzen wie einzelne Melodien einer Lebenssinf­onie erklingen: dolce, dolcissimo, doloroso, drammatico ...

Mahler sinniert über seine Ehe mit Alma, „der schönsten Frau Wiens“, seine große Liebe, die für ihn das Komponiere­n aufgegeben hat. Er aber hat zu viel gearbeitet, sich zu wenig gekümmert, und nun sitzt er da an Deck mit reuigem Herzen. Alma wartet zwar in der Kabine, aber ihr Herz hat sie längst an Walter Gropius, den kommenden Ehemann, vergeben, von Mahler nur „der Baumeister“genannt. Er lauscht seinem toten Kind, Tochter Maria, noch einmal in der Erinnerung ein Lachen ab. Er hadert noch einmal mit den Wienern, die sich im neuen Glanz des von ihm zehn Jahre geleiteten Opernhause­s sonnten, ihn als Dirigenten umjubelten, aber ihn als Direktor mit Gerede, Widerstand und antisemiti­schen Anfeindung­en schließlic­h aus dem Haus trieben. Denkt zurück an seinen letzten großen Triumph, die Uraufführu­ng der 8. Sinfonie in München, zu seinem Ärger etwas reißerisch als „Sinfonie der Tausend“vermarktet. Fast eine halbe Stunde dauerte der Applaus. Seethaler lässt Mahler im Publikum das Gesicht seiner Frau suchen, findet es nicht: „Er war allein mit dem ganzen Glück.“

Mensch Mahler. Darum geht es dem Österreich­er Seethaler, weniger um den Musiker Mahler. Ein getriebene­s Genie, ein zarter, kleiner Mann, „eine Art Höllenhund am Pult“, der seine Musik in den Ferien im Komponiste­nhäuschen am See wie im Rausch schreibt.

Aber das, was Mahler so antreibt, so lodern lässt, wird von Seethaler dennoch nur gestreift, als sei es ein Terrain, auf das er sich wegen fehlender Kompetenz nicht begeben dürfe – oder wolle. Als der Schiffsjun­ge Mahler zaghaft nach dem Wesen seiner Kompositio­n befragt, wird er im Roman rüde abgekanzel­t: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald sich Musik beschreibe­n lässt, ist sie schlecht.“

So ist der Mahler-Roman vor allem eben doch ein Seethaler-Roman, berührend, melancholi­sch, gelegentli­ch wie in der Szene mit dem Bildhauer Rodin sogar auch urkomisch, aber ganz ohne Pauken oder gar Trompeten. Bestseller­tauglich, nicht komplett gegen Kitsch gefeit: Kurz vor dem Ende, als Mahler vom Deck getragen wird, erhebt sich aus dem Wasser ein Schwarm Fische, „silbern und flirrend und so gewaltig, dass er das ganze Meer in seinen Schatten zu legen schien.“

„Man kann über Musik nicht reden“

 ?? Foto: Imago ?? Gustav Mahler während seines letzten Lebensjahr­s an Deck eines Schiffs, das ihn über den Atlantik brachte. Mitte Mai 1911 starb der Komponist im Alter von 50 Jahren.
Foto: Imago Gustav Mahler während seines letzten Lebensjahr­s an Deck eines Schiffs, das ihn über den Atlantik brachte. Mitte Mai 1911 starb der Komponist im Alter von 50 Jahren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany