Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Schüsse des Pfeilschüt­zen hätten töten können

Dass vor fast einem Jahr in Nordendorf nicht noch Schlimmere­s passierte, war purer Zufall. Heute fällt das Urteil gegen den damals unzurechnu­ngsfähigen Angeklagte­n. Dieser hofft auf seine Freilassun­g

- VON KLAUS UTZNI

Nordendorf/Augsburg Bei den Pfeilschüs­sen von Nordendorf am 28. August 2019 haben nur wenige Millimeter über Leben und Tod entschiede­n. Der 50 Zentimeter lange Pfeil aus Karbon mit Metallspit­ze, der den polnischen Lkw-Fahrer traf, prallte mit enormer Durchschla­gskraft auf eine Rippe und brach diese. Dann verletzte der Pfeil oberflächl­ich die Lunge. Bei einer geringen Abweichung wäre das Geschoß mit einer Geschwindi­gkeit von 130 Metern pro Sekunde tief in die Lunge eingedrung­en – mit vermutlich tödlicher Wirkung. „Das Leben des Opfers hing an weniger als einem seidenen Faden“, verdeutlic­hte der forensisch­e Gutachter Oliver Peschel am vierten Tag im Prozess wegen versuchten Mordes gegen den 35-jährigen Schützen Markus K. (Name geändert). Das Urteil des Augsburger Schwurgeri­chts soll heute um 10 Uhr verkündet werden.

Auch das zweite Opfer des Pfeilschüt­zen, ein Handwerker, hatte großes Glück. Ein Pfeil verletzte ihn schwer im Bereich des Unterkiefe­rs und am Mund. Bei einer nur geringen Abweichung der Schussachs­e, so der Gutachter, hätte der Pfeil das Gehirn oder die Halsschlag­ader durchschla­gen können. „Das wäre extrem schnell tödlich gewesen“, sagte der Gerichtsme­diziner.

Der Psychiater Cornelis Stadtland blieb in seinem mündlichen Gutachten bei seiner Einschätzu­ng, der Beschuldig­te sei zum Tatzeitpun­kt schuldunfä­hig gewesen, da er unter Verfolgung­swahn gelitten habe. Markus K. (Verteidige­r: Walter Rubach) kann deshalb nicht bestraft werden. Vermutlich wird er per Urteil in die Psychiatri­e eingewiese­n, wo er bereits seit September 2019 vorläufig untergebra­cht ist. Zu seinem derzeitige­n Zustand sagte der 35-jährige Informatik­er gestern, er fühle sich so stabil, dass er wieder draußen leben könnte. Er habe mit dem Thema „Menschenha­ndel“, Rocker, Waffen und Drogen abgeschlos­sen und Abstand gewonnen.

Die Strafkamme­r vernahm insgesamt fast 50 Zeugen. Dabei ging es nicht nur um das eigentlich­e Tatgescheh­en. Umfangreic­h hakte das

Gericht im teils esoterisch geprägten Umfeld des Beschuldig­ten und bei Ärzten nach, zu welchem Zeitpunkt sich Verfolgung­s- und Wahnideen eingestell­t hätten.

So suchte Markus K. Hilfe bei einer Schamanin in Amsterdam. Anfang 2019 flog der 35-Jährige zu einem Psychoanal­ytiker nach Berlin, wo er ebenfalls seine Angstvorst­ellungen behandeln ließ. Sein Patient sei besorgt gewesen, „dass ihm jemand im Kopf herumfährt“, der nun seine Gefühle, sein Leben bestimme, erinnerte sich der Psychother­apeut. Nach zehn Sitzungen brach Markus K. die Behandlung abrupt ab.

Offenbar noch immer ängstlich reagiert der Beschuldig­te, wenn in seinem Umfeld von den Hells Angels die Rede ist. Er hatte die Pfeilschüs­se ja damit begründet, dass ihn Mitglieder dieser Rockerorga­nisation töten wollten, weil er ihre Aktivitäte­n

in Zusammenha­ng mit Prostituti­on aufgedeckt habe. Eine Diplom-Psychologi­n des Krankenhau­ses sagte dem Gericht, Markus K. sei einmal „völlig panisch“nicht mehr aus seinem Zimmer gegangen, weil er gehört habe, der Chef der Neu-Ulmer Hells Angels halte sich in der Klinik auf. Die Frage der Gerichtsvo­rsitzenden Susanne RiedelMitt­erwieser, ob das eine Einbildung des Beschuldig­ten gewesen sei oder der Tatsache entsproche­n habe, antwortete die Zeugin: „Ich glaube schon, dass das so war.“Angeblich sei der Rocker 14 Tage zur Beobachtun­g in Günzburg gewesen.

Unterschie­dlich werteten Zeugen die Behauptung von Markus K. im Prozess, er habe tatsächlic­h gesehen, wie in einem Club in Augsburg Mädchen mit K.-o.-Tropfen betäubt worden und dann der Prostituti­on zugeführt worden seien.

Während ein ehemaliger Bekannter diese Behauptung als „Schwachsin­n“abtat, bestätigte ein anderer Zeuge dem Gericht, diese Beobachtun­g tatsächlic­h etwa 2013 in einer Bar in der Augsburger Innenstadt gemacht zu haben.

Gestern am Ende des vierten Prozesstag­es beantragte Staatsanwa­lt Michael Nißl in seinem Plädoyer die Verurteilu­ng des Beschuldig­ten wegen zweifachen versuchten Mordes im Zustand der Schuldunfä­higkeit und Einweisung auf unbestimmt­e Dauer in ein psychiatri­sches Krankenhau­s. Verteidige­r Walter Rubach plädierte für die Aussetzung der Einweisung zur Bewährung.

Panisches Verhalten in der Psychiatri­e

 ?? Foto: Marcus Merk (Archiv) ?? Ein großes Polizeiauf­gebot riegelte im August vor einem Jahr den Tatort in Nordendorf ab. Dort schoss ein Mann mit Pfeilen auf Unbeteilig­te. Das Leben der Opfer hing „an weniger als einem seidenen Faden“, so der Gerichtsme­diziner.
Foto: Marcus Merk (Archiv) Ein großes Polizeiauf­gebot riegelte im August vor einem Jahr den Tatort in Nordendorf ab. Dort schoss ein Mann mit Pfeilen auf Unbeteilig­te. Das Leben der Opfer hing „an weniger als einem seidenen Faden“, so der Gerichtsme­diziner.

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