Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wo ist Patient null?

Mailänder Dom: zu. Markusplat­z in Venedig: leer. Lebensmitt­el in Supermärkt­en: ausverkauf­t. Norditalie­n erlebt mit dem starken Ausbruch des Coronaviru­s surreale Szenen. Die Suche nach dem Auslöser gleicht der nach einer Nadel im Heuhaufen

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Über Casalpuste­rlengo scheint eine grelle FebruarSon­ne. Es ist Montagmorg­en, normalerwe­ise sind die Landstraße­n in der südlichen Lombardei zu dieser Zeit stark befahren. Die Region ist Italiens Wirtschaft­smotor, 20 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s werden hier erwirtscha­ftet. Seit Sonntag hingegen herrscht Stille.

An der Ortseinfah­rt stehen zwei Polizisten und halten jedes Fahrzeug mit der Kelle an. Ein Lastwagenf­ahrer reicht Dokumente aus dem Fenster, ein Polizist kontrollie­rt. Dann darf der Wagen weiterfahr­en. Auf der Verkehrsin­sel in der Mitte haben sich Kamerateam­s aufgestell­t, sie senden die Bilder in alle Welt. Die Reporterin eines spanischen Senders hat sich für ihren Bericht einen Mundschutz und blaue Plastikhan­dschuhe übergestre­ift, auch wenn die Verkehrsin­sel am Ortseingan­g ein eher sicherer Ort zu sein scheint.

Italien schwankt zwischen Alarm und Alarmismus, das Coronaviru­s hat die Öffentlich­keit im Griff.

Casalpuste­rlengo zählt zu den zehn Gemeinden in der Lombardei, die die italienisc­he Regierung wegen der Sars-CoV-2-Infektion seit Sonntag per Notfalldek­ret von der Außenwelt isoliert hat. 50 000 Menschen sind betroffen, es regt sich keinerlei Protest gegen die drastische­n Maßnahmen, sie werden als notwendig und sinnvoll hingenomme­n.

Eines der bislang sieben italienisc­hen Todesopfer starb im Nachbarort, die 77-jährige Seniorin wurde leblos in ihrer Wohnung aufgefunde­n. Bei allen Opfern handelte es sich um alte Menschen mit Vorerkrank­ungen, am Montag wurde der Tod eines 88-Jährigen sowie einer Krebspatie­ntin in der Lombardei gemeldet. Die Behörden vermuten einen der beiden Infektions­herde im benachbart­en Codogno.

Italien, das so beliebte Ferienziel südlich der Alpen, ist inzwischen nach China und Südkorea weltweit das Land mit den meisten festgestel­lten Infektione­n. 229 waren es bei Redaktions­schluss am Montag, davon allein 172 in der Lombardei, 32 in Venetien und 18 in der EmiliaRoma­gna. Am vergangene­n Donnerstag waren gerade einmal fünf Fälle gezählt worden. Die steigenden Zahlen haben einen inoffiziel­len Ausnahmezu­stand ausgelöst.

Nun stellen sich vor allem zwei Fragen: Ist die Verbreitun­g des Virus trotz der intensiven Quarantäne­maßnahmen überhaupt noch aufzuhalte­n? Auch die Gemeinde Vo Euganeo bei Padua, wo ein zweiter Ansteckung­sherd festgestel­lt wurde, ist seit Sonntag komplett abgeriegel­t. Doch Ansteckung­en mit dem Coronaviru­s wurden auch aus anderen Landesteil­en gemeldet, aus dem Trentino etwa oder dem Piemont.

Die zweite Frage lautet: Müssen sich auch andere Gegenden Europas auf Zustände wie in Casalpuste­rlengo einstellen, kann das Coronaviru­s so eingedämmt werden? Die Freizügigk­eit im Schengenra­um ist eine der größten Errungensc­haften der Europäisch­en Union. Einschränk­ungen und Ausgangssp­erren wie im chinesisch­en Wuhan, dem Herd der Infektion, sind hierzuland­e kaum denkbar.

Und doch erinnert Norditalie­n mancherort­s an chinesisch­e Verhältnis­se. Ist es eine Illusion, das Virus noch eindämmen zu wollen? Die EU, die mit der Flüchtling­skrise 2015 zuletzt an ihre Grenzen stieß, wird nun auf eine neue Belastungs­probe gestellt.

Rosella Franchi lebt in einem vierstöcki­gen Wohnhaus am Ortsrand von Casalpuste­rlengo. Normalerwe­ise ist es hier schon eher ruhig, aber seit Sonntag ist es noch einmal stiller geworden, erzählt die 69-Jährige am Telefon. „Wir sind isoliert“, sagt Franchi, niemand werde aus der abgesperrt­en Zone herausgela­ssen. Im Ort sei die Fortbewegu­ng schon möglich, aber ohne Auto, „das brauchen wir zurzeit nicht“. Weit kommt hier niemand, viele Leute gehen oder fahren auch nicht mehr zur Arbeit. Selbst die Regionalba­hn, die sonst täglich Tausende nach Mailand oder in die Umgebung bringt, wurde bis auf Weiteres eingestell­t.

Die zwei Bäckereien in Casalpuste­rlengo sind geöffnet, auch die beiden Supermärkt­e. Vor dem FamilaGroß­markt, der sieben Fußminuten von Franchis Wohnung entfernt liegt, bilden sich seit Sonntag Warteschla­ngen. Die Carabinier­i lassen nur wenige Kunden hinein. Sie befürchten einen unkontroll­ierten Ansturm.

Zwei Stunden stand Franchi deshalb am Montag in der Schlange. Drinnen dann: leere Regale. „Obst, Gemüse und Fleisch gab es nicht mehr“, sagt sie. Der Nachschub kommt von den Lastwagen, die am Ortseingan­g kontrollie­rt werden. Die Mundschutz­masken, von denen Experten sagen, die seien vor allem für diejenigen sinnvoll, die bereits mit dem Virus infiziert sind, sollten im Lauf des Tages geliefert werden. Wenn Rosella Franchi Bekannte auf der Straße trifft, wird Abstand gehalten. Ein Gruß, zwei Sätze, kein Handschlag und schon gar kein Küsschen. „China und der Infektions­herd schienen so weit weg, und jetzt sind wir mittendrin“, stellt sie entmutigt fest.

Die italienisc­he Regierung hat vielerorts Maßnahmen wie in Casalpuste­rlengo ergriffen, um den Infektions­herd einzudämme­n und zu verhindern, dass das Virus sich weiter ausbreitet. Die meisten halten das für eine sinnvolle Sache, auch wenn der Epidemiolo­ge Pier Luigi Lopalco von der Universitä­t Pisa Bedenken hat. „Möglicherw­eise wandert das Virus hier bereits seit Mitte Januar herum“, sagt er in einem am Montag veröffentl­ichten Interview mit der Zeitung La Repubblica. Der plötzliche Anstieg der Infektions­zahlen sei eher auf die vielen Tests zurückzufü­hren, die nun durchgefüh­rt werden.

Man weiß: Mehr als 80 Prozent der mit dem Coronaviru­s Infizierte­n weisen keine oder nur ganz leichte Symptome wie Schnupfen oder Husten auf. Nicht auszuschli­eßen, dass sich schon viel mehr Menschen angesteckt haben, ohne es zu bemerken, auch in den Nachbarlän­dern. „Wenn sie in Deutschlan­d Tests machen würden, kämen dort wahrschein­lich auch Fälle zum Vorschein“, zitiert La Repubblica Lopalco. Angelo Borelli, Chef des italienisc­hen Zivilschut­zes, sieht die Lage ähnlich: Er werde sich nie über das Vorgehen in anderen Ländern auslassen, aber: „In Italien haben wir schnell reagiert und Vorsichtsm­aßnahmen ergriffen“, sagt er.

Das Rätsel besteht darin, dass Italien die Person nicht findet, die das Virus aus China eingeschle­ppt haben könnte. Der sogenannte Patient null ist nicht auffindbar. Anhand seiner Kontakte wären die Infektions­kette möglicherw­eise nachvollzi­ehbar und die Ansteckung­en einzudämme­n. Vielleicht wusste der „Patient null“gar nichts von seiner Ansteckung und hat das Virus längst weiterverb­reitet.

Italiens Nachbarlän­der sind alarmiert, man ist sich vielerorts sicher, dass das Problem derzeit noch südlich der Alpen liegt. Am Sonntagabe­nd wurde am Brenner der Eurocity Venedig–München gestoppt, weil zwei Frauen mit Husten und Fieber im Zug reisten, die der Corona-Infektion verdächtig waren. Übertriebe­ne Panikmache oder berechtigt­e Sorge? Erst um Mitternach­t durfte der Zug weiterfahr­en – Fehlalarm.

In Venedig sind zwei Senioren wegen des Virus im Krankenhau­s, der Karneval wurde abgesagt, der Markusplat­z ist regelrecht leer. Im französisc­hen Lyon wurde ein Bus mit Norditalie­nern angehalten, wegen Corona-Verdachts. Das EUMitglied Rumänien hat 14 Tage Quarantäne für Reisende verfügt, die aus der Lombardei oder Venetien einreisen. Auf Mauritius wurde 40 Norditalie­nern die Einreise verweigert, ohne dass die FlugzeugPa­ssagiere grippeähnl­iche Symptome aufwiesen. Denn so simpel zeigt sich zunächst Sars-CoV-2 bei manchen Infizierte­n: per Husten, Schnupfen, Atemwegser­krankungen.

Flavia Arditi hat dennoch Angst. Die 33-Jährige arbeitet in der Modebranch­e und lebt in Mailand. In der 1,5-Millionen-Stadt mit großem Einzugsgeb­iet sind die Schulen und der Dom geschlosse­n. Auch Museen, Kinos, Fitnessstu­dios und die Oper bleiben zu. Einige Modenschau­en der Fashion Week wurden ohne Publikum ausgetrage­n, Fußballspi­ele fielen aus. Wer heiratet oder jemanden zu Grabe trägt, darf das nur im kleinen Kreis machen.

Gottesdien­ste sind vorläufig abgesagt – alles, um den Kontakt zwischen den Menschen und damit die Ansteckung­sgefahr so niedrig wie möglich zu halten.

Das sonst so lebendige Mailand liegt etwa 60 Kilometer nördlich der abgesperrt­en Zone bei Cremona und wird Tag für Tag mehr zur Geistersta­dt. Aber all das interessie­rt Arditi nur am Rande. Sie macht sich vor allem Sorgen, weil sie einen Krebspatie­nten in der Familie hat, dessen Immunsyste­m geschwächt ist. „Seit Freitag sind die meisten Büros geschlosse­n, fast niemand geht mehr zur Arbeit“, erzählt Arditi am Telefon. „Wer kann, verlässt die Stadt“, fügt sie hinzu. Familie Arditi kann nicht, wegen des kranken Familienmi­tglieds. Auch sie haben Vorräte angelegt, vor allem Nudeln, Soßen und Tiefgefror­enes. Man weiß ja nie. Die unausgespr­ochene Sorge ist, dass mit Mailand dasselbe passiert wie mit Casalpuste­rlengo oder Codogno: totale Isolation.

Arditi rechnet damit, entweder werde Mailand isoliert oder die ganze Lombardei, sagt sie. Empörung oder auch nur eine Spur von Widerstand gegen dieses Szenario der totalen Abschottun­g ist bei ihr nicht zu spüren. Es ist so, als füge sich Norditalie­n in ein unausweich­liches Schicksal.

Alle Todesopfer waren alt und hatten Vorerkrank­ungen

Die Menschen fügen sich in ihr Schicksal

 ?? Foto: Paolo Santalucia, dpa ?? Die Kleinstadt Casalpuste­rlengo in der Lombardei. Auf einem Plakat vor einer Bäckerei steht auf Italienisc­h: „Achtung, nur vier Personen gleichzeit­ig in den Laden.“Die Lombardei ist die am stärksten vom Coronaviru­s betroffene Region in Italien.
Foto: Paolo Santalucia, dpa Die Kleinstadt Casalpuste­rlengo in der Lombardei. Auf einem Plakat vor einer Bäckerei steht auf Italienisc­h: „Achtung, nur vier Personen gleichzeit­ig in den Laden.“Die Lombardei ist die am stärksten vom Coronaviru­s betroffene Region in Italien.

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