Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Als die Kirchenmacht zu sinken begann
Kunstgeschichte Das Zeitalter der Renaissance war weiter gespannt als bislang angenommen: Ihre Vorstufen und Folgen schildert der aus Augsburg stammende Historiker Bernd Roeck in seinem neuen Buch
Albertino Mussato war wohl der erste Europäer, der seinen Geburtstag feierte. Dieser Notar der oberitalienischen Stadt Padua handelte als ein gebildeter Mann; neben dem juristischen Tagesgeschäft widmete er sich leidenschaftlich den Menschenwissenschaften, den „studia humanitatis“, also Geschichte, Grammatik, Rhetorik, Poesie und Moralphilosophie. Albertino Mussato (1261–1329) gilt als einer der Begründer des Humanismus, jener geistigen Strömung, die die Frühe Neuzeit prägte und direkt zu dem führte, was wir Renaissance nennen. Dass er seinen Geburtstag statt des Namenstags feierte, belegt, wie sich schon zu seiner Zeit, im 13. Jahrhundert, das Denken vom Himmelreich und den Heiligen hin zum Erdreich und den Menschen verschob, wie das persönliche Leben wichtiger wurde und die Bedeutung der himmlischen Seligkeit sank.
Die profane, säkulare Welt wachte auf und behauptete sich zunehmend gegenüber dem sakral definierten Jenseits. Der Sinn des Lebens bestand nicht mehr nur in der Reinigung von weltlichen Sünden und in der Erlösung, sondern darin, durch politische Praxis ein angenehmes Leben zu schaffen, und dabei auch eine bürgerliche Moral und eine kritische Reflexion der eigenen Geschichte nicht zu vergessen. „Der Morgen der Welt“, wie Bernd Roeck, der aus Augsburg stammende und seit vielen Jahren in Zürich lehrende Historiker, sein neues Buch nennt, bedeutete eine Eindämmung der Religion als Voraussetzung eines neuen, kritischen und innovativen Denkens.
Renaissance nämlich, das ruft uns Roeck in Erinnerung, ist nicht nur das, was wir meist unter diesem Etikett verhandeln – die Kunst eines Donatello und Raffael, die Architektur eines Alberti und Palladio. Sie ist zuallererst eine Denkbewegung, die in der mittelalterlichen Welt die Quellen der Antike wieder entdeckt und zur „Wiedergeburt“(Renaissance) bringt – und sie dann auch fortentwickelt. Sokrates, Platon, Aristoteles: Die Griechen hatten der Welt eine skeptische Tradition, das Prinzip des kritischen Dialogs, des lustvollen Streitens, des respektlosen Infragestellens hinterlassen. Auch nach dem Niedergang des römischen Imperiums waren die Alten keineswegs vergessen; in mittelalterlichen Klöstern kopierten Mönche die Schriften der Antike, übersetzten sie ins Latein, die lingua franca Europas, und sicherten ihren Weiterbestand. Manchmal nahmen die Werke der antiken Klassiker weite Umwege: Sie wurden in isla- mischen Medresen ins Arabische übersetzt und kamen übers spanische Cordoba wieder nach Europa.
Bernd Roeck greift in seinem 1300-Seiten-Werk weit aus. Offenkundig stellt er, der sich ein Forscherleben lang in mehreren Büchern mit der Renaissance befasst hat, seine Studie in die Tradition der großen Vorgänger Jacob Burckhardt und Peter Burke. Aber er wählt doch einen anderen Ansatz, den des Vergleichs. Wo finden sich antike Wiedergeburten schon vor der eigentlichen Renaissance? Gab es sie auch im islamischen und asiatischen Kulturraum? Und ist das dann vergleichbar mit der europäischen Renaissance? So lauten seine Forschungsfragen.
Ja, es gab sie, die „Protorenaissancen“– etwa im 9. Jahrhundert in Bagdad, Damaskus und Kairo, wo das aristotelische Werk übersetzt wurde, wo bahnbrechende Innovationen in der Wissenschaft ersonnen wurden. Es gab sie auch in China, wo das Papier und der Buchdruck (im Hochdruckverfahren) erfunden wurden. Und es gab sie im Europa Karls des Großen, ebenfalls 9. Jahrhundert, wo in karolingischen Schreibstuben Texte von Plinius, Sallust oder Cäsar kopiert wurden, und dann im 12. Jahrhundert, als die Zahl der Handschriften mit antiken Texten sprunghaft anstieg. Doch: All diese Bewegungen reichten nicht an die Wiedergeburt der Antike im Europa des 14. bis 17. Jahrhunderts heran.
Sosehr es Roecks Verdienst ist, den eurozentrischen Blick zu weiten und Europas Dialog mit anderen Kulturen zu würdigen, so deutlich muss er dann allerdings spätestens ab dem 14. Jahrhundert wieder in die Mitte unseres Kontinents zurückkehren, dahin, wo eine einzigartige „Diskursrevolution“Platz griff und alles Bisherige auf den Kopf stellte. Florenz war die Stadt der Stunde: Hier gab es eine gebildete Mittelschicht, die die Frage nach Individualität und Freiheit unbekümmert diskutierte; hier gab es genug Geld für Bücher und Kunst, man las Dante sowie Petrarca. Die Macht der Kirche war inzwischen begrenzt, die säkulare Gesellschaft hatte sich mit Rechtlichkeit und Geldwirtschaft etabliert, die geistige Auseinandersetzung konnte blühen.
Auch anderswo wuchsen Städte, wurden Universitäten gegründet, formierte sich der frühmoderne Staat. Die Renaissance griff auf ganz Europa über. In Augsburg sammelte der humanistisch gebildete Stadtschreiber Conrad Peutinger antike Inschriften; im kleinen Mainz erfand Gutenberg den Buchdruck und startete eine gigantische Medienrevolution, die das bürgerliche, auf der Antike fußende Denken weithin ebenso verbreitete wie natürlich auch bald Luthers Religionskritik.
Das Zentrum freilich blieb noch für lange Zeit Italien: Italienische Leitkultur galt in ganz Europa. Obwohl von geld- und machtgierigen Renaissance-Päpsten ausgeplündert, von grausamen Söldnern wie einem Federico da Montefeltro gequält, konnten hier doch reiche Städte wie Padua, Pisa und das kleine Urbino in den Marken wachsen, konnten große Künstler wie Leonardo und Michelangelo heranreifen. Hier gilt, was Roeck neben der Eindämmung der Religion als eine weitere Voraussetzung für die Renaissance in Europa sieht: politische Kleinteiligkeit, die zu einem Klima des intellektuellen Wettstreits und zur Patronage von Künstlern führte, die so auch einen großen „Möglichkeitsraum“für geistige Vielfalt schuf. In diesem Raum entfaltete sich eine auf Anschauung und Experiment statt auf Dogmen und Mythen gründende Wissenschaft, die schließlich die industrielle Revolution antrieb und unser Leben bis heute bestimmt.
Wer diesen Raum mit dem Historiker Roeck durchschreitet, hat große Etappen zu bewältigen, fürchtet bisweilen gar, in den ungeheuren Wissensbeständen des Autors die Orientierung zu verlieren. Weniger feuilletonistische, mehr chronologische Kapitelüberschriften wären hilfreich gewesen. Aber Bernd Roeck ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch begabter Fabulierer; er erzählt so spannend, dass das Durchackern dieser 1300 Seiten letztendlich doch ein großes Leseund Bildungsvergnügen bleibt.
Und dies nicht ohne politische Botschaft: Spätestens am Schluss des Werks zielt der Autor nochmals ins Innerste des heutigen Europa, das derzeit von Religionskonflikten, Angst vor dem Fremden und Identitätskrisen geschüttelt wird. Die Lehren der Renaissance für uns Heutige, so Roeck, seien ganz einfach: Religion sollte ihren Platz im Herzen haben und nicht in der Politik. Toleranz ist alternativlos. Kultur entsteht nicht ohne Austausch mit anderen. Und schließlich: Die größte Stärke des Westens liegt in der Diskussion über Freiheit und Menschenwürde sowie in der Selbstkritik.