Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie moderne Architektur sich in spektakuläre Ruinen verwandelt
Baukunst Einst mit hochfliegenden Zielen entworfen, rotten sie heute vor sich hin: Geisterstädte, halbfertige Wolkenkratzer, bröckelnde Paläste. Was ist da schiefgelaufen?
In New York soll ein spektakuläres Wolkenkratzerprojekt verwirklicht werden. Sagenhafte 1200 Meter Länge sind geplant, die dadurch zustande kommen, dass das Gebäude die Form eines Hufeisens hat – beide Enden auf dem Boden stehend, während der Bogen sich irgendwo in Hunderten Metern Höhe wölbt. Es ist nicht so, dass man Zweifel haben müsste, in der ewigen Boomtown New York, wo für hochwertigen Wohnraum locker Millionen-Beträge hingeblättert werden, keine Abnehmer für die Appartements des neuen Wolkenkratzers zu finden. Und doch lässt der „Big Bench“genannte Hufeisen-Tower in seinen Dimensionen an architektonische Projekte der Moderne denken, die einst in vergleichbarem, manchmal noch viel monumentalerem Maßstab entworfen wurden – und heute als Zeugen einer von den Menschen nicht angenommenen Planung vor sich hin dämmern.
China, Land unbegrenzter Möglichkeiten, bietet dafür manch eindrückliches Beispiel. Da gibt es etwa im Bannkreis der Metropole Hangzhou die Stadt Tianducheng. Eine täuschend echte Kopie von Paris, mit Straßenzügen, deren Häuser an die Boulevards des Fin de siècle erinnern, und einem Eiffelturm, der sich nur dadurch vom Original unterscheidet, dass er mit seinen gut hundert Metern allenfalls ein Drittel so hoch ist wie der echte. Als mit dem Bau von Tianducheng begonnen wurde, gingen die Planer von 10 000 Einwohnern aus. Heute leben 2000 Menschen dort. Wohnungen stehen leer, Läden sind nicht vermietet. Wer durch die Straßen des Fake-Paris wandelt, kommt sich vor wie in einer Geisterstadt. Hochzeitspaare schätzen das europäische Flair zwar als Kulisse für Fotos. Um jedoch hier zu leben, dafür sind den meisten die Preise zu hoch.
Städte wie Tianducheng gibt es nicht nur in China, sondern auch anderswo auf der Welt. Kilamba in – am Reißbrett entworfene 82 000 Wohnungen, doch leisten kann sie sich kaum jemand. Eine „urbane Wüste“nennt das Alessandro Biamonti, Architekt und Dozent am Mailänder Polytechnikum. Biamonti forscht über die Hintergründe solcher „ArchiFlops“. Er beschäftigt sich mit den zugrunde liegenden Utopien, sucht Gründe für das Scheitern und hat darüber ein Buch geschrieben. Es gibt, so seine Erkenntnis, eine ganze Reihe von Ursachen für spektakuläre architektonische Fehlschläge.
Hashima, zum Beispiel, hat eine Zeit lang – wenn auch mehr schlecht als recht – funktioniert. Die winzige japanische Insel war, nachdem im 19. Jahrhundert am Meeresgrund vor Nagasaki Kohle entdeckt wurde, durch Aufschüttungen auf sechs Quadratkilometer vergrößert worden. Für die Minenarbeiter und ihre Familien entstanden auf engstem Raum Wohnblöcke und etwas Infrastruktur. 1959 wurde hier mit 3450 Einwohnern pro Quadratkilometer die weltweit höchste Einwohnerdichte erreicht, die Lebensbedingungen waren katastrophal. In den 70ern war die Mine nicht mehr rentabel. Mit der Schließung kam auch das Ende von Hashima, fluchtartig wurde die Insel verlassen, die Gebäude verfielen.
Gaben im Falle von Hashima wirtschaftliche Gründe den Ausschlag für die Entstehung wie für die Entwertung der Architektur, so galten für eine Reihe von Bauten in ehemaligen oder bestehenden Diktaturen andere Vorzeichen. Oft sollte realisiert werden, was den Machthabern zur Repräsentation diente – manches blieb jedoch mittendrin rungenschaften des Kommunismus. Nach dem Sturz des Regimes 1989 war das Monument schlagartig seines Zwecks beraubt, wurde Ziel von Plünderern und rottet nun in der Berglandschaft vor sich hin.
Was tun mit diesen Relikten, die keiner mehr braucht? Flop-Experte Alessandro Biamonti plädiert nicht für Abriss, sondern für Erhalt. Aus den Ruinen unserer Zeit, argumentiert er, ließe sich für die Zukunft lernen, das Bröckelnde sei Mahnmal für die Verfehlungen der Moderne. Und er weist darauf hin, dass die Flops auch als Inspirationsquelle nicht zu unterschätzen seien.
Tatsächlich gibt es Touristen, die der oft surrealen Atmosphäre des Verfallenden ihren Reiz abgewinnen. Hashima, die einstige Arbeiterinsel im japanischen Meer, wurde gezielt für Besucher geöffnet. Wundern würde es nicht, wenn die Macher des James-Bond-Films „Skyfall“sich für einige Szenen von der Verfallsszenerie hätten inspirieren lassen. Sie wären nicht die einzigen Filmer, die sich den dystopischen Charme bröselnder Architektur nutzbar zu machen wüssten. Im Torre David in Caracas (Venezuela), einem 45 Stockwerke hohen, nie fertig gebauten Wolkenkratzer, von tausenden Menschen als illegaler Wohnraum in Beschlag genommen, wurden Teile der US-Serie „Homeland“gedreht. Und in Berlin bildete der aufgegebene „Spreepark“im Actionthriller „Wer ist Hanna?“den Schauplatz für den finalen Kampf zwischen Hauptdarstellerin Saoirse Ronan und Gegenspielerin Cate Blanchett. Ein Showdown, der seine visuelle Kraft maßgeblich aus der Endzeitszenerie des einstigen Vergnügungsparks der DDR bezieht, wo sich zwischen stillgelegtem Riesenrad und rostender Achterbahn die Natur ungehindert ihren Raum zurückerobert.
» Alessandro Biamonti: ArchiFlop. Ge
scheiterte Visionen. Die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur. DVA, 192 S., 29,95 ¤.