Augsburger Allgemeine (Land Nord)
So werden Klassiker verständlich
Aktion Zum deutschlandweiten Vorlesetag sucht Annemarie Probst aus Meitingen gezielt Werke in leichter Sprache. Was sich hinter diesem Begriff verbirgt und wie diese Bücher aussehen
Annemarie Probst fällt die Wahl schwer, als sie sich die Bücher im Regal der Meitinger Bücherei ansieht, das mit der Kategorie „Leichtes Lesen“überschrieben ist. Für heute Abend sucht sie etwas ganz Spezielles, denn sie möchte zum deutschlandweiten Vorlesetag in der Wohngruppe mit behinderten Menschen in der St.-WolfgangStraße vorlesen. Entweder sie entscheidet sich für ein Buch mit vielen kleinen Geschichten oder sie beginnt aus dem Buch zum Film „Ziemlich beste Freunde“zu lesen und wird die Betreuer der Gruppe bitten, das Buch weiterzulesen.
Egal bei welchem Buch – eines muss Annemarie Probst dabei immer bedenken: Ihre Zuhörer können nur Texte in „leichter Sprache“verstehen. Literatur in eben dieser Sprache zu finden, ist gar nicht so einfach. Ein Ableger eines niederländischen Verlages hat hier aktuell das größte Portfolio und das gibt es auch in der Meitinger Bücherei zu leihen.
„Öffentliche Büchereien müssen dieser Thematik heute viel mehr Aufmerksamkeit widmen als noch vor fünf Jahren“, erklärt Michael Sanetra, der Leiter der Landesfachstelle des Sankt Michaelsbundes. Der Diplom-Bibliothekar erklärt, dass diese neue Buchgeneration zunächst in Großstädten präsent war, mittlerweile aber auch in ländlicheren Regionen zunehmend häufiger in die Buchregale einzieht.
Und so findet man in der Meitinger Bücherei seit etwa eineinhalb Jahren Klassiker wie „Romeo und Julia“, „Das Wunder von Bern“, „Anne Frank“und „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“neben modernen Werke wie „Tschick“, dessen Verfilmung gerade die Kinosäle füllt. Was sie vom Original unterscheidet, wird auf den ersten Blick deutlich. Diese Bücher sind viel dünner als die Originale, und das liegt nicht etwa an der Schriftgröße. „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“hat im Original 366 Seiten. Die Variante fürs leichte Lesen hat gerade einmal 125 Seiten, ist aber in viel größerer Schrift geschrieben, in kleine Kapitel geteilt und umfasst sogar ein kleines Wörterbuch zum Nachschlagen schwer verständlicher Worte.
Bei den Klassikern gehe es in erster Linie darum, Barrieren abzubauen, erklärt Michael Sanetra. Inhalte zu begreifen, ohne mit schwerer Sprache oder einem ganz anderen Sprachstil klarzukommen, ist das Ziel. Das Beispiel von „Romeo und Julia“zeigt dies deutlich, denn wer die Leichtes-Lesen-Variante aufschlägt, wird mit diesen einfachen Sätzen konfrontiert: „Romeo geht in der Stadt spazieren. Das macht er fast jeden Tag. Er genießt seine Streifzüge. Er bummelt durch die schmalen Straßen. Er geht zum Fluss, wo Dienstmädchen Wäsche waschen. Er schlendert über den Markt. In Verona ist immer etwas los. Viele Menschen aus der Umgebung besuchen den Markt. Hier wird alles Mögliche angeboten: Werkzeug, Möbel, Obst und Gemüse. Auch Hühner, Schafe und Kühe …“Literatur in leichter Sprache vermittelt den Inhalt des Originals, verzichtet dabei aber auf Fremdwörter, Fachwörter und lange Sätze. Ziel ist es, Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit Demenz und denjenigen, die nicht so gut lesen und schreiben können, das Lesen zu ermöglichen. So ist diese Literatur beispielsweise auch für Migranten geeignet. Diesen teilweise hochgebildeten Menschen Kinderbücher vorzulegen, nur weil diese einfach geschrieben sind, wäre falsch, erklärt Michael Sanetra. Stattdessen bieten Bücher, wie die in der Meitinger Bücherei, den Menschen die Möglichkeit, Themen für Erwachsene in leichter Sprache zu konsumieren. Wichtig ist, diese Bücher sensibel anzubieten und das Angebot auch publik zu machen.
Annemarie Probst nimmt heute Abend mehrere Bücher mit. Und wenn sie sich doch für einen längeren Roman entscheidet, dann versucht sie bei Bedarf, den Bewohnern der Wohngruppe in der St.-Wolfgang-Straße in leichter Sprache einige erklärende Worte rund um die Geschichte mitzugeben.