Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Indien stürzt ins Bargeld-Chaos
Reform Das Land hat fast alle Banknoten für ungültig erklärt. Eine Woche später leiden viele Kunden unter den Folgen
Vor dem Eingang der Filiale der Deutschen Bank in NeuDelhi wird es laut. Ein großer Mann mit Turban hält fluchend einem Mitarbeiter einen Zettel vor das Gesicht. „Ich warte seit mehr als zwei Stunden“, ruft er. „Ständig werden Leute vorgelassen.“10 000 Rupien (rund 137 Euro) darf er an diesem Tag maximal von seinem Konto abheben. Wenn er mehrere Stunden in der Schlange vor der Bank durchhält – und dann noch Bares verfügbar ist.
Szenen wie diese spielen sich seit einer Woche täglich vor fast jeder Bankfiliale Indiens ab. In der vergangenen Woche hatte die indische Regierung über Nacht alle Scheine im Wert von mehr als 100 Rupien (rund 1,37 Euro) für ungültig erklärt. Zum Vergleich: Im gesamten Euroraum befinden mit 19,5 Milliarden weniger Banknoten im Umlauf, als nun in Indien auf einen Schlag keinen Wert mehr haben. Neue Noten im Wert von 500 und 2000 Rupien (rund 6,85 und 27,40 Euro) werden nur sehr langsam ausgegeben.
Obwohl die Banken das vergangene Wochenende geöffnet blieben, sind die Schlangen vor den Instituten inzwischen länger als kurz nach der Ankündigung. Hunderte Menschen stauen sich vor fast jeder Filiale. Vor einer Bank drängen Wachleute die Menschenmenge mit Schlagstöcken zurück.
Die steigende Verzweiflung der Bevölkerung auf der Suche nach Bargeld wird an jeder Ecke sichtbar. Straßenstände und Märkte, sonst um die Mittagszeit umschwärmt, bleiben leer. Auf der anderen Seite gehen Geschäften, die Kreditkarten annehmen, die Waren aus. Online bezahlbare Lieferdienste für den täglichen Einkauf kündigen Wartezeiten von mehreren Tagen an.
„Wir wollen uns so aus dem Griff von Korruption und Schwarzgeld befreien“, sagte Indiens Premierminister Narendra Modi, als er die umstrittene Maßnahme ankündigte. Dafür will er alles Bargeld einmal durch das Bankensystem zwingen – und möglichst viel davon anschließend digitalisiert belassen.
Doch wie sich in den vergangenen Tagen mehr und mehr zeigt, gleicht die Aktion einer Operation am offenen Herzen. Die für ungültig erklärten Noten machen mehr als 86 Prozent der Bargeld-Kaufkraft des Landes aus. Um niemandem die Gelegenheit zu geben, Schwarzgeld beiseite zu schaffen, wussten auch die Banken vorher nicht, dass nun mehr als 22 Milliarden Scheine eingezogen werden sollen.
Die indische Wirtschaftsprofessorin und Gegnerin der Reform, Jayati Ghosh, kritisiert, dass insbesondere die armen Bevölkerungsschichten leiden. Rund die Hälfte der Inder haben kein Konto und die Mehrheit der Landbevölkerung noch nicht einmal eine Bankfiliale in ihrer Nähe. „Dieser Schock über Nacht“, schreibt sie in einem Gastbeitrag für die Zeitung The Hindu, „ist enorm destabilisierend und wird einem sehr großen Teil der Bevölkerung materiellen Schaden zufügen.“Stefan Mauer, dpa