Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Kabinettsgeflüster
Widerstand gegen Angela Merkel? Lange unvorstellbar in der CDU. Dann sagte sie: „Wir schaffen das“, und auf einmal legen sich Innenminister Thomas de Maizière und Finanzminister Wolfgang Schäuble quer. Über Loyalität, Putschgerüchte und jede Menge Frust
Berlin Es waren anstrengende Tage auf Malta. Und wer weiß, ob Angela Merkel nach ihrer Rückkehr vom Treffen mit den europäischen und afrikanischen Regierungschefs spätabends nicht noch ein wenig ferngesehen hat. In der ARD, zum Beispiel, lief da gerade die Bambi-Gala, bei der Wolfgang Schäuble einen Preis für sein politisches Lebenswerk erhielt und von seinen Laudatoren auch mit einer kleinen filmischen Hommage bedacht wurde. Neben Ehefrau Ingeborg, Tochter Christine und einer alten Schulfreundin aus Baden kommt darin auch der Finanzminister selbst zu Wort. „Ich bin nicht pflegeleicht, ich bin nicht bequem“, sagt Schäuble da. „Aber ich bin loyal.“
Mit der Loyalität ist das im Moment ja so eine Sache in der Union. Und selbst wenn es sich bei den Aufnahmen schon um etwas älteres Archivmaterial handelt, so illustrieren sie in ihrer unfreiwilligen Widersprüchlichkeit doch einen Konflikt, wie Angela Merkel ihn in zehn Jahren als Bundeskanzlerin noch nicht erlebt hat. Obwohl sie Schäuble zweimal schwer gedemütigt hat, als sie ihm erst den CDU-Vorsitz entriss und ihm dann auch noch das Amt des Bundespräsidenten verwehrte, konnte sie sich auf ihn jederzeit verlassen. Nun aber ist es ausgerechnet der bislang so loyale Finanzminister, der sich zum Kronzeugen gegen ihre Asylpolitik entwickelt, indem er die Flüchtlingskrise mit einer Lawine vergleicht, die über Europa gekommen ist und dafür auch ein plakatives Bild fin- det: „Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt.“
Dass dieser unvorsichtige Skifahrer womöglich eine Skifahrerin gewesen sein könnte, sagt Schäuble zwar nicht. In den Köpfen seiner Zuhörer beim Zentrum für europäische Politik in Berlin aber formt sich an diesem Abend fast zwangsläufig das Bild von der Kanzlerin, die irgendwo in den verschneiten Bergen steht und eine Lawine lostritt, die nichts und niemand mehr stoppen kann. Einen Tag vor der BambiVerleihung war das, und spätestens seit diesem Auftritt müsste Angela Merkel klar sein, dass auch die Macht der mächtigsten Frau Europas ihre Grenzen hat. Dass sich etwas zusammenbraut.
Die Kanzlerin, die an diesem Abend in einem Studio des ZDF sitzt, lässt sich davon allerdings nichts anmerken. Der Frage, ob der Finanzminister mit seinem Lawinen-Vergleich ihre Autorität untergraben habe, weicht sie aus. „Wolfgang Schäuble ist eine Klasse für sich“, sagt Angela Merkel, als hebe sie gerade zu einer weiteren Laudatio an. Sie aber denke nicht in solchen Bildern. Obergrenzen? Nicht mit ihr! Die Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, hätten alle einen Grund, zu fliehen, sagt sie. Von ihrem Credo „Wir schaffen das“rückt die Kanzlerin nicht ab, obwohl ihr der Wind aus den eigenen Reihen schwer ins Gesicht bläst. Stattdessen spricht sie wie eine mittelalterliche Regentin in der dritten Person von sich: „Die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff.“
Es ist ein ebenso souveräner wie befremdlicher Auftritt, mit dem sie ihre Politik am Ende einer turbulenten Berliner Woche verteidigt. Souverän, weil sie auch kritische Fragen lächelnd und sichtbar mit sich im Reinen pariert. Befremdlich, weil in ihren Antworten genau das fehlt, was viele in den C-Parteien sich erhoffen: Ein Signal, dass die Koalition in der Asylpolitik die Zügel anzieht. Angela Merkel dagegen kontert: „Ich bin dafür, dass wir ein freundliches Gesicht von Deutschland zeigen.“Wenn man so will, ist das ihr Verständnis von Willkommenskultur. Ans Aufgeben jedenfalls denkt diese Frau nicht. Kämpfen wolle sie, sagt sie, und dass sie den Bürgerinnen und Bürgern für die komplette Legislaturperiode zur Verfügung stehe. Noch Fragen?
Nach mehr als vier Jahrzehnten in der Politik aber plappert ein Mann wie Wolfgang Schäuble auch nicht einfach unbedacht drauflos. Einer wie er weiß, wie Worte wirken, drastische Vergleiche wie der mit der Lawine zumal – und dass politische Prozesse schnell eine gewisse Eigendynamik entwickeln. Das heißt noch nicht, dass er bereit wäre, einen Putsch gegen die Kanzlerin anzuzetteln oder gar anzuführen. Es
Bundesinnenminister Thomas de Maizière erhält für seine Flüchtlingspolitik wachsende Zustimmung. Nach dem jüngsten ZDF-„Politbarometer“sind 45 Prozent der Befragten der Ansicht, der CDU-Politiker mache seine Arbeit eher gut; im September fanden das nur 34 Prozent. De Maizière vertritt eine restriktivere Haltung als die Bundeskanzlerin.
Die Arbeit von Angela Merkel in der Flüchtlingskrise wird von einer Mehrheit (52 Prozent) weiter als eher schlecht bewertet; gute Noten bekommt sie nur noch von 43 Prozent.
Auch die Meinungen, ob Deutsch- heißt aber zumindest, dass die sich genau überlegen muss, was sie ihrer Partei noch zumuten will. Man könnte auch sagen: Schäuble hat den Druck deutlich erhöht.
Vielleicht sei das, was sich in Berlin gerade abspiele, noch keine Kanzlerdämmerung, raunt ein Abgeordneter mit Einfluss in der Union. „Aber so wie jetzt kann es auf keinen Fall weitergehen.“Ein anderer, ebenfalls Mitglied im Fraktionsvorstand, vergleicht die Situation mit der ihres Vorgängers Gerhard Schröder, der mit seinen Sozialreformen viele treue Anhänger der SPD für immer vertrieben habe: „Auch die Wähler, die wir jetzt verlieren, kommen nicht mehr zurück.“So wie damals die neue Linke, soll das heißen, könnte nun die Alternative für Deutschland zum Krisengewinnler werden. Die erste Kraft, die sich rechts von der Union etabliert. Womöglich auf Dauer.
Vier Wochen vor dem Parteitag der CDU in Karlsruhe wird es von Tag zu Tag einsamer um Angela Merkel. „Wir können nicht warten, land die vielen Flüchtlinge verkraften
kann, bleiben geteilt. 47 Prozent sind der Auffassung, das sei zu schaffen, 50 Prozent finden das nicht.
Am wollen die meisten nicht rütteln. 63 Prozent befürworten das Recht anerkannter Asylbewerber, ihre Ehepartner und minderjährigen Kinder nachkommen zu lassen. 31 Prozent sind dagegen.
Auf Platz eins der wichtigsten zehn Politiker liegt weiterhin Finanzminister (CDU), gefolgt von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Merkel bleibt auf Platz vier. (dpa)
Familiennachzug
Wolfgang Schäuble bis wir auf 30 Prozent gefallen sind“, warnt der baden-württembergische Abgeordnete Axel E. Fischer. „Die Bürger wollen Orientierung und Führung – und die bekommen sie im Moment nicht.“
Wie Fischer geht es vielen seiner Kollegen, wenn sie nach einer Sitzungswoche in Berlin zurück in ihre Wahlkreise kommen: Bürgermeister und Landräte wissen nicht mehr wohin mit den Flüchtlingen, treue CDU-Mitglieder verabschieden sich in die innere Emigration oder treten gleich ganz aus, und fast jeder hat in seiner Familie, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis jemanden, der (oder die) regelrecht geschwärmt hat für Angela Merkel und sich jetzt fragt, wie eine Frau sich denn so verändern kann. So schnell – und, vor allem, warum?
Politik sei ein ständiges Rendezvous mit der Realität, hat Wolfgang Schäuble einmal gesagt, von dem es heißt, er halte sich für den Fall der Fälle als Reservekanzler bereit. Obwohl die Koalition die eine oder andere Vorschrift schon etwas verschärft hat, ist die Realität der Kanzlerin ja noch immer eine andere als die von Schäuble und Innenminister Thomas de Maizière, ihren prominentesten Gegenspielern. So weit wie die Schweden, die ihre Grenzen vorübergehend wieder kontrollieren, will die Kanzlerin auf keinen Fall gehen – obwohl viele in der Union genau das von ihr erwarten. Ihr Plan, sagt sie, setze bei den Ursachen für die Flucht an, also tausende von Kilometern entfernt.
Am Anfang waren es nur Horst Seehofer und die CSU, die offen gegen sie aufbegehrten. Inzwischen aber gibt es auch im engeren Führungszirkel der Christdemokraten nicht mehr viele, die ihren Frust so hinunterschlucken wie Fraktionschef Volker Kauder oder Angela Merkels uckermärkischen Zweckoptimismus so bedingungslos unterstützen wie Kanzleramtsminister Peter Altmaier, Generalsekretär Peter Tauber und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Nicht einmal eine bekennende Merkelianerin wie die stellvertretende Parteivorsitzende Julia Klöckner, die Ministerpräsidentin in Mainz werden will und alles gebrauchen kann, nur keine neuen Umfragetiefs, will sich noch uneingeschränkt zu ihr bekennen. Natürlich, beteuert sie, stehe sie noch an der Seite der Kanzlerin, aber zugleich stehe sie eben auch an der Seite von de Maizière.
Wie das gehen soll, für etwas zu sein und doch wieder dagegen, sagt die 42-Jährige nicht. Den meisten Deutschen allerdings geht es nicht anders. Ihr diffuses Unbehagen äußert sich in sinkenden Popularitätswerten für die Regierungschefin
Wie war das mit der „Lawine“nun gemeint?
Wie die Deutschen die Asylpolitik der Regierung bewerten Sie sagt, sie habe die Lage im Griff
und ihre Sehnsucht nach einer ordnenden Hand in steigenden Werten für den Innenminister, der die Kanzlerin und ihren Koordinator Altmaier schon gar nicht mehr darüber informiert, dass er Syrer nicht mehr pauschal als Asylbewerber anerkennen und ihnen den Familiennachzug erschweren will. Auf Platz eins der beliebtesten Politiker steht ohnehin der Veteran Schäuble.
Auch bei der Bambi-Gala macht der seinem Ruf als Meister der kryptischen Kommunikation alle Ehre. Offen und hilfsbereit sei dieses Deutschland, sagt Schäuble in seiner Dankesrede, ohne konkreter zu werden. Kurze Pause. „Wir sollten vielleicht nicht vergessen, dass wir das alles durch Übermaß aufs Spiel setzen können.“