Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Zwischenst­ation

Fast alle Flüchtling­e wollten nach Deutschlan­d oder noch weiter. Österreich kannten viele nicht einmal. Trotzdem versetzten sie Wien in den Ausnahmezu­stand

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Knapp fünf Kilometer östlich vom Freilassin­ger Tierheim und etwa 20 Meter tiefer liegt die Parkgarage des Salzburger Hauptbahnh­ofs. Von der tiefen Decke säuselt eine Entlüftung­sanlage, etwa 100 der 150 Stellplätz­e sind belegt, vorwiegend mit hochpreisi­geren Modellen. Das gelb-rot-graue Farbkonzep­t ist um Moderne bemüht, doch es bleibt ein Ort, der einen Zweck erfüllen soll. Jetzt, an einem gewöhnlich­en Montagnach­mittag, heißt dieser Zweck: Auto abstellen. Damals hieß er: Wohnen, Warten, Überleben.

Ende August erlaubte die ungarische Regierung kurzzeitig, dass Flüchtling­e per Zug nach Deutschlan­d und Österreich reisen konnten. Wenig später wurde diese Entscheidu­ng wieder aufgehoben, doch der Zeitkorrid­or reichte vielen Flüchtling­en. Rund 1500 landeten in der Nacht vom 31. August auf den 1. September in Salzburg. Da keine Anschlussz­üge mehr nach Deutschlan­d gingen, war der Hauptbahnh­of vorläufige Endstation. Die Flüchtling­e mussten am Bahnhof übernachte­n, konnten am nächsten Tag aber Richtung Deutschlan­d weiterreis­en. Es sollte ein erster Vorgeschma­ck sein auf das, was folgte.

Nachdem Deutschlan­d am 13. September die Grenzkontr­ollen verschärft hatte, sammelten sich tausende Flüchtling­e aus allen Richtungen an den großen Bahnhöfen in Wien und Salzburg. Die Hauptstadt wurde zur zentralen Drehscheib­e, die Mozartstad­t zum Nadelöhr. Züge fuhren nur noch über die Grenze, wenn in deutschen Grenzbahnh­öfen Kapazitäte­n zur Registrier­ung der Flüchtling­e da waren. Das dauerte manchmal Stunden, oft Tage. Die Salzburger Tiefgarage wurde so zum Transitlag­er, in dem hunderte Menschen Schutz fanden.

Fünf Jahre danach ist die Flüchtling­sbewegung von 2015 Erinnerung und Statistik: 300000 Menschen wurden per Zug und Bus durch Österreich transporti­ert, 70 000 Menschen übernachte­ten von September bis Oktober an österreich­ischen Bahnhöfen. „Wir waren ein veritabler Hotelbetri­eb, wenn ich das so salopp sagen darf“, konstatier­t Erich Pirkl am Wiener Hauptbahnh­of. Pirkl war 2015 Mitglied des Krisenstab­s der Österreich­ischen Bundesbahn­en (ÖBB) und damit einer derjenigen, die die Krise organisato­risch bewältigen mussten.

Pirkl tritt als Sachlichke­it in Person auf, adrett gekleidet, sonore Stimme, nüchtern in Geste und Wort. Ein Manager nach innen und außen, der sich in seiner 35-jährigen Karriere ein Repertoire an Krisenlehr­en angeeignet hat: „Man muss Themen und Situatione­n versachlic­hen“, „Die Frage nach der Schuld oder dem Warum darf keine Rolle spielen“, „Emotionen müssen außen vor bleiben“. Pirkl ist Geschäftsf­ührer der Öbb-immobilien­management Gmbh, die in Österreich für alle Hochbauten, sprich Bahnhöfe zuständig ist. Krisen des Alltags sind Unwetter, Lawinenabg­änge, gestrandet­e Schulklass­en. Und dann war da der Herbst 2015.

Wegen einer Besichtigu­ngstour war Pirkl am 31. August zufällig am Wiener Hauptbahnh­of. Ihm fielen die vielen Polizisten und Rettungskr­äfte auf, also fragte er beim Sicherheit­sdienst nach. Die Antwort: Ein übervoller Railjet-schnellzug sei auf dem Weg von der ungarischö­sterreichi­schen Grenze nach Wien. „Die Fahrtzeit von dort liegt bei einer knappen Stunde. Das war unsere Vorwarnzei­t“, sagt Pirkl, ohne Groll. Themen versachlic­hen, keine Schuldfrag­en stellen, Emotionen außen vor lassen. Managen. „Mir war schnell klar, dass da etwas Großes auf uns zukommt. Da musste man Entscheidu­ngen treffen.“

Der Wiener Hauptbahnh­of wurde im Oktober 2014 eröffnet. Knapp ein Jahr später war ein ganzer Stadtteil rundherum noch im Entstehen. Die Kapazitäte­n für Unterbring­ung und Verpflegun­g der Flüchtling­e schienen begrenzt. Während am 1. September die meisten am Westbahnho­f ankamen, entstand in den Folgetagen ein zweiter Schwerpunk­t am Hauptbahnh­of – ungeplant, denn viele Freiwillig­e brachten die Flüchtling­e selbst organisier­t in Autos oder Bussen dorthin. Was wohl gut gemeint war, stellte die Organisato­ren vor große Probleme. „Das hat sich schnell eingebürge­rt, auch über soziale Medien. Die haben die Flüchtling­e aussteigen lassen und gesagt: ,Das ist der Bahnhof, von dort geht es nach Deutschlan­d.‘ Einmal kamen um 2 Uhr morgens vier volle Busse. Die Busse waren weg, und wir standen dann da. Das war ein Problem.“

Ein weiteres war die schlechte Informatio­nslage. Während die Abstimmung mit der deutschen Seite nach Ansicht von Pirkl gut funktionie­rte, sei die Kommunikat­ion mit den ungarische­n Kollegen „stark verbesseru­ngsbedürft­ig“gewesen. „Wir wussten oft erst durch unseren Fahrdienst­leiter im Grenzbahnh­of, wie viele Menschen in einem Zug sitzen.“Da gleichzeit­ig auch der reguläre Pendlerver­kehr weiterlauf­en musste, wurde eine Urlaubsspe­rre für die Bahnhofsmi­tarbeiter verhängt. Sie direkt anzuordnen, sei aber nicht notwendig gewesen, betont Pirkl. Die Mitarbeite­r hätten freiwillig auf Urlaub verzichtet.

Zwei Wochen herrschte an Westund Hauptbahnh­of Ausnahmezu­stand. Flüchtling­e warteten und schliefen in Fahrradgar­agen, Rohbauten, Verteilerh­allen im Bahnhof, in einem leer stehenden Bürogebäud­e der ÖBB. Jeder freie Quadratmet­er, den der Krisenstab damals ausfindig machte, wurde genutzt.

Auch an der Karl-popper-straße, die gleich hinter dem Hauptbahnh­of durch eine Unterführu­ng verläuft, kamen Menschen unter. Wo jetzt der Verkehr vorbeiraus­cht, lag damals ein Hauch von Orient in der Luft. Das Essen, das die Hilfsorgan­isation Caritas an Flüchtling­e verteilte, war den kulturelle­n Gewohnheit­en angepasst worden. „Ich habe das gerochen und mich gefragt: Bin ich jetzt im Urlaub oder nicht?“, erinnert sich Pirkl, als er durch die Unterführu­ng geht. „Wenn ich daran denke, was hier los war – das ist heute schon ein Gefühl der Leere.“Er meint die räumliche, nicht die emotionale.

Dabei war der Herbst 2015 auch für den Menschen Erich Pirkl eine Herausford­erung. Pirkl hat Anfang September Geburtstag. Dreimal lud er damals Freunde und Bekannte ein, dreimal musste er absagen. Beim letzten Versuch hatte ihn kurz zuvor ein Anruf erreicht: In einem Zug, der bald in Wien ankomme, sei ein totes Kind in einer Ikea-tüte. Der Manager fuhr an den Bahnhof. Der Zug wurde geräumt, damit nach dem Kind gesucht werden konnte. Dann fanden Mitarbeite­r das Kind. Lebend. „Das war ein gehbehinde­rtes Kind, das in einer Ikea-tüte die Flucht bewerkstel­ligt hat und eingeschla­fen war.“Es ist eines der Bilder, die Pirkl nicht aus dem Kopf gehen.

Geblieben sind ihm auch viele Begegnunge­n. Die schönen, „die ein motivieren­des Feedback gaben“: mit dem syrischen Bub im Kasperl-kostüm, das eine Familie gespendet hatte. Oder mit Flüchtling­en, die ihm ein Smartphone-ladekabel liehen, weil sein Akku zu später Stunde leer war. Da waren aber auch schwierige Momente. Wieder ein Anruf, einer von vielen nächtliche­n. Die Infos: Die Deutsche Bahn hat einen Zug für 1000 Flüchtling­e abgesagt, angespannt­e Stimmung am Hauptbahnh­of. „Da waren hunderte aufgebrach­ter Flüchtling­e, die etwas gerufen haben, was ich nicht verstanden habe. Ich dachte: Respekt, da darfst du jetzt keinen Fehler machen.“Über Dolmetsche­r nahm Pirkl Kontakt mit den Meinungsfü­hrern auf. Sie begegneten ihm mit Misstrauen, zu schlecht waren vorherige Erfahrunge­n mit Behördenve­rtretern. Doch nach rund eineinhalb Stunden hatte sich die Situation beruhigt. Was half, das Vertrauen der Flüchtling­e zu gewinnen? „Mein Outfit. Ich bin damals mit kurzer Hose, T-shirt und Flipflops hingefahre­n. Es war ein wichtiger Punkt, kein hierarchis­ches Gehabe an den Tag zu legen.“

Pirkl geht die Treppen hoch, die zu Gleis 8 führen. Hier stiegen vor fünf Jahren mal 450, mal 1000 Flüchtling­e in Züge Richtung Deutschlan­d. Heute sind es wenige Dutzend, Pendler, Touristen, Senioren. Ein Inlandszug schnauft los in Richtung Wiener Neustadt. Wie Pirkl auf 2015 blickt? „Außer einer Scheibe ist damals nichts kaputt gegangen.“Kein Stolz? „Ich sehe das ganz emotionslo­s, das ist für mich nicht Wehmut oder Befriedigu­ng. Heut’ ist halt eine andere Situation.“

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Fotos: Weber/kramer; dpa 2015 (oben) waren sowohl die Tiefgarage des Salzburger Hauptbahnh­ofs (links) als auch die Nebenhalle des Wiener Hauptbahnh­ofs Lager von Flüchtende­n – 2020 herrscht hier wieder der geordnete Alltag.
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Erich Pirkl

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