Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Infektions­geschehen

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger-allgemeine.de

Es geschieht jeden Tag viel. Und seit es Geschehnis­se gibt, hegt der Mensch den Wunsch, einiges davon ungeschehe­n zu machen. Das klappt selten – so selten, wie Wunder geschehen. Zu den Geschehnis­sen, denen wir als machtlose Beobachter ausgeliefe­rt sind, gehören das Wettergesc­hehen oder das Spielgesch­ehen im Fußballsta­dion.

Mit dem Coronaviru­s ist ein ganz neues Geschehen in unser Leben getreten – das Infektions­geschehen. Es geht den Nachrichte­nsprechern inzwischen so leicht von den Lippen wie Konsumklim­aindex oder Arbeitsmar­ktzahlen. Wo Menschen sind, können Infektione­n geschehen. Das Tückische am Infektions­geschehen ist seine Unsichtbar­keit. Anders als das Verkehrsge­schehen (Stau oder freie Fahrt) lässt sich Infektions­geschehen nicht erkennen. Dass es überall und nirgendwo waltet, dass es am helllichte­n Tag oder im Nachtklub sich abspielen kann, in der Region Osnabrück oder in Offenbach, an der Elbe oder im Landkreis München – das macht das Infektions­geschehen zu einem Gespenst, so nebulös wie Aerosole.

Auch das Ausbleiben von Infektione­n gehört ja zum Geschehen. Politiker und Virologen erklären täglich, dass man das Infektions­geschehen beobachte und vom Infektions­geschehen abhängig mache, was weiter zu geschehen hat. Dass es innerhalb des allgegenwä­rtigen, oft diffusen Infektions­geschehens (natürlich gibt es das auch in Berlin!) auch noch anderes Geschehen von Belang gibt, daran erinnerte uns dieser Tage Verfassung­sschutzprä­sident Thomas Haldenwang. Er erklärte vor dem Hintergrun­d der Demos gegen die Corona-politik, Rechtsextr­emisten und Reichsbürg­ern sei es gelungen, „das heterogene Protestges­chehen zu instrument­alisieren.“Dass diese Leute den „Resonanzra­um“der Coronaprot­este vor dem Reichstag vergiftet haben, lässt sich nicht mehr ungeschehe­n machen. Aber deshalb muss es um die Protestkul­tur in Corona-zeiten noch nicht geschehen sein. Erich Fried dichtete: Es ist geschehen/ und es geschieht nach wie vor/ und wird weiter geschehen/ wenn nichts dagegen geschieht.

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