Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Infektionsgeschehen
Es geschieht jeden Tag viel. Und seit es Geschehnisse gibt, hegt der Mensch den Wunsch, einiges davon ungeschehen zu machen. Das klappt selten – so selten, wie Wunder geschehen. Zu den Geschehnissen, denen wir als machtlose Beobachter ausgeliefert sind, gehören das Wettergeschehen oder das Spielgeschehen im Fußballstadion.
Mit dem Coronavirus ist ein ganz neues Geschehen in unser Leben getreten – das Infektionsgeschehen. Es geht den Nachrichtensprechern inzwischen so leicht von den Lippen wie Konsumklimaindex oder Arbeitsmarktzahlen. Wo Menschen sind, können Infektionen geschehen. Das Tückische am Infektionsgeschehen ist seine Unsichtbarkeit. Anders als das Verkehrsgeschehen (Stau oder freie Fahrt) lässt sich Infektionsgeschehen nicht erkennen. Dass es überall und nirgendwo waltet, dass es am helllichten Tag oder im Nachtklub sich abspielen kann, in der Region Osnabrück oder in Offenbach, an der Elbe oder im Landkreis München – das macht das Infektionsgeschehen zu einem Gespenst, so nebulös wie Aerosole.
Auch das Ausbleiben von Infektionen gehört ja zum Geschehen. Politiker und Virologen erklären täglich, dass man das Infektionsgeschehen beobachte und vom Infektionsgeschehen abhängig mache, was weiter zu geschehen hat. Dass es innerhalb des allgegenwärtigen, oft diffusen Infektionsgeschehens (natürlich gibt es das auch in Berlin!) auch noch anderes Geschehen von Belang gibt, daran erinnerte uns dieser Tage Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Er erklärte vor dem Hintergrund der Demos gegen die Corona-politik, Rechtsextremisten und Reichsbürgern sei es gelungen, „das heterogene Protestgeschehen zu instrumentalisieren.“Dass diese Leute den „Resonanzraum“der Coronaproteste vor dem Reichstag vergiftet haben, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber deshalb muss es um die Protestkultur in Corona-zeiten noch nicht geschehen sein. Erich Fried dichtete: Es ist geschehen/ und es geschieht nach wie vor/ und wird weiter geschehen/ wenn nichts dagegen geschieht.