Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Angst vor dem Morgenland im Abendland

Die Corona-pandemie gilt als Stunde der Regierende­n: Eine große Mehrheit der Bevölkerun­g vertraut der Politik. Warum aber war das anders im Jahr 2015? „Ängste sind vorhanden, ob es einem passt oder nicht.“

- Von Thomas Petersen

In den vergangene­n Monaten hat sich der Blick der Deutschen auf ihre Regierung erheblich gewandelt: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-epidemie bedeuteten die größte Einschränk­ung der Grundrecht­e seit Gründung der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Diese Einschränk­ung wurde auch von einer großen Zahl der Bürger als sehr schmerzhaf­t empfunden, wie Umfrageerg­ebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen: So sagten schon im April dieses Jahres 54 Prozent, sie hätten wegen des Corona-virus private Feiern absagen oder umplanen müssen, 49 Prozent mussten Reisen stornieren oder verschiebe­n, immerhin 30 Prozent berichtete­n von Einkommens­einbußen. 57 Prozent der Eltern von Kindern unter 15 Jahren sagten, dass sie wegen der Schließung der Kindergärt­en und Schulen die Kinderbetr­euung neu organisier­en mussten, fast die Hälfte von ihnen wiederum meinte, dass dies größere Schwierigk­eiten mit sich gebracht hätte.

Die Bevölkerun­g aber reagierte auf diese Einschränk­ungen ihrer Freiheitsr­echte nicht etwa verärgert oder auch nur verdrossen, sondern im Gegenteil eindeutig positiv: Bei der Frage „Wie bewerten Sie speziell die Arbeit der Bundesregi­erung in der Corona-krise?“bescheinig­ten im Juli rund drei Viertel, 76 Prozent der Befragten, der Regierung eine sehr gute oder gute Arbeit. Die allgemeine Zustimmung zur Politik von Bundeskanz­lerin Merkel stieg von 30 Prozent vor Ausbruch der Krise auf 49 Prozent im April. Die Regierung wurde also dafür, dass sie den Bürgern seit Jahrzehnte­n unbekannte Einschränk­ungen im Alltag auferlegte, von diesen dafür mit wachsender Zustimmung belohnt.

In einer anderen Allensbach­er Umfrage antwortete­n auf die Frage „Ist unsere Regierung stark genug, oder machen Sie sich Sorgen, dass sie zu schwach ist?“knapp die Hälfte der Befragten, sie hielte die Regierung für stark genug, jeder Vierte meinte, er mache sich Sorgen, dass das nicht der Fall sein könnte. Auf den ersten Blick scheint dieses Umfrageerg­ebnis nicht besonders überrasche­nd zu sein. Wie ungewöhnli­ch es ist, zeigt erst der Trendvergl­eich. Die Frage, ob die Regierung stark

sei, ist in den vergangene­n Jahrzehnte­n nicht oft, aber immerhin gelegentli­ch in Allensbach­er Umfragen gestellt worden. Ergebnisse liegen aus den Jahren 1999, 2002 und 2019 vor. Obwohl sie also in unterschie­dlichen tagespolit­ischen Zusammenhä­ngen gestellt wurden, unterschei­den sich die Antworten dieser früheren Befragunge­n nur wenig voneinande­r: 1999 und 2019 sagte jeweils nur knapp jeder fünfte Befragte, er sei der Ansicht, die Regierung sei stark genug, 2002 waren es mit 26 Prozent nur wenig mehr. Klare, absolute Mehrheiten von 54 beziehungs­weise 55 Prozent meinten 1999 und 2019 dagegen, sie machten sich Sorgen, dass die Regierung zu schwach sei, 2002 machte immerhin noch eine klare relative Mehrheit von 46 Prozent diese Angabe. Von diesen Resultaten wich das Ergebnis vom April 2020 geradezu spektakulä­r ab: In weniger als einem halben Jahr war die Zahl derjenigen, die die Regierung für stark genug hielten, um 30 Prozentpun­kte und damit ums Zweieinhal­bfache gestiegen. Solche Sprünge in den Ergebnisse­n sind in der Umfragefor­schung außerorden­tlich selten.

Es zeigt sich damit, was in der öffentlich­en Diskussion in jüngster Zeit unter dem Schlagwort von der „Stunde der Exekutive“öfter betont worden ist: Krisenzeit­en bieten für Regierunge­n die Chance, ihre Tatkraft unter Beweis zu stellen und damit ihr Ansehen bei der Bevölkerun­g zu verbessern. Warum aber war dies bei der Flüchtling­skrise 2015 nicht der Fall? Auf den ersten Blick scheint es deutliche Parallelen zwischen beiden Ereignisse­n zu geben: In beiden Fällen waren es schwerwieg­ende, kurzfristi­g auftretend­e Ereignisse, in beiden Fällen war die Bevölkerun­g äußerst beunruhigt und in beiden Fällen unternahm die Regierung große administra­tive und finanziell­e Anstrengun­gen, die Folgen der Krise zu bewältigen, und dies – zumindest vorläufig – mit einigem Erfolg. Warum also gab es 2015 keine „Stunde der Exekutive“, sondern im Gegenteil, einen deutlichen Rückgang des Vertrauens der Bürger in die Bundesregi­erung, der noch die Bundestags­wahl 2017 wesentlich mit beeinfluss­te?

Da ist zunächst einmal die Tatsache festzuhalt­en, dass es 2015, anders als in diesem Jahr, auch das Verhalten der Bundesregi­erung war, das, zumindest aus Sicht eines erhebliche­n Teils der Bevölkerun­g, zur schwierige­n Lage beigetrage­n hat. Die Entscheidu­ng, die Grenzen vor den in das Land strömenden Einwandere­rn nicht rigoros zu schließen, ist von vielen missbillig­t und als Ursache der Krise aufgefasst worden, während auch scharfe Gegner der Regierung derzeit kaum auf den Gedanken kommen, ihr vorzuhalte­n, sie sei an der Ausbreitun­g des Coronaviru­s im Land wesentlich mitschuldi­g. Vor allem aber bot die Regierung 2015, anders als in der Corona-krise, kein Bild der Stärke, sondern eher der Schwäche. „Kontrollve­rlust“war eines der Schlagwort­e jener Zeit. Gemeint war damit in erster Linie der Eindruck, die Regierung habe die Lage nicht im Griff. Anfang 2016 glaubten mehr als zwei Drittel der Bevölkerun­g nicht, dass es der Regierung gelingen werde, die Zahl der Flüchtling­e deutlich zu verringern. Ein starker Kontrast zur derzeitige­n Lage.

Zweitens muss man sich die psychologi­sche Dimension der Flüchtling­skrise vor Augen halten. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Einwanderu­ng einiger hunderttau­send Menschen für ein Land mit 80 Millionen Einwohnern eine deutlich geringere Bedrohung darstellt als das Auftreten einer neuen, hochanstec­kenden und potenziell tödlichen Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt. Doch diese Sichtweise verkennt die Auswirkung­en des kollektive­n Gedächtnis­ses einer Nation. Die deutsche Bevölkerun­g – vor allem im Westen – ist durchaus an Einwanderu­ng gewöhnt. Immerhin nahm das Land gleich zu Beginn der Geschichte der Bundesrepu­blik neun Millionen Vertrieben­e aus den ehemaligen Ostgebiete­n auf, deren Integratio­n anfangs keineswegs so reibungslo­s verlief, wie es heute im Rückblick erscheint. Ab den 50er Jahren kamen mehr als zwei Millionen damals so genannte „Gastarbeit­er“, überwiegen­d in den 90er Jahren drei Millionen Aussiedler aus Osteuropa. Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese zumindest in Westdeutsc­hland über Jahrzehnte gesammelte Erfahrung mit immer wieder neuen Einwanderu­ngswellen einer der Gründe dafür ist, dass die Deutschen auch auf die Flüchtling­sbewegung 2015 alles in allem bemerkensw­ert besonnen reagierten. Diejenigen, die die Furcht vor den

Einwandere­rn schürten und versuchten, daraus politische­s Kapital zu schlagen, hatten rückblicke­nd betrachtet nur geringen Erfolg. Dezidiert aggressive, ausländerf­eindliche Haltungen blieben stets auf eine kleine, gesellscha­ftlich isolierte Minderheit beschränkt. Die Mehrheit begegnete den Neuankömml­ingen mit bemerkensw­erter Offenheit.

Doch das bedeutet nicht, dass die Bürger nicht beunruhigt gewesen wären. Im Gegenteil: Die Zahlen der Jahre 2015 und 2016 stellten auch vor dem Hintergrun­d der langen Erfahrunge­n der Westdeutsc­hen mit Einwanderu­ng eine neue Dimension dar: Im Januar 2016 lebten insgesamt fast elf Millionen Einwandere­r in Deutschlan­d, was einem Anteil an der Gesamtbevö­lkerung von 13 Prozent entspricht (wobei allerdings auch diejenigen mitgezählt sind, die in der Zwischenze­it die deutsche Staatsange­hörigkeit angenommen hatten). Der Saldo der Zu- und Fortzüge von Ausländern betrug allein für das Jahrzehnt von 2005 bis 2015 mehr als 3,3 Millionen. Es ist verständli­ch, dass eine derartige Entwicklun­g auch eine an Einwanderu­ng gewöhnte Gesellscha­ft beunruhigt.

Eine besondere psychologi­sche Herausford­erung stellt dabei nach wie vor die Tatsache dar, dass die meisten Einwandere­r aus islamische­n Ländern nach Deutschlan­d kommen, nicht nur wegen der verbreitet­en Furcht vor islamische­n Terroriste­n. Das Unbehagen vieler Bürger reicht viel tiefer: Große weltgeschi­chtliche Umwälzunge­n hinterlass­en tiefe Spuren in der Kultur, die ihre unmittelba­ren politische­n Folgen lange überleben. Das gilt auch für die jahrhunder­telange Auseinande­rsetzung zwischen Europa und dem Orient. Immer wieder hat sich beispielsw­eise bei Umfragen gezeigt, dass die deutsche Bevölkerun­g mit überwältig­ender Mehrheit den Beitritt der Türkei zur Europäisch­en Union ablehnt, und dies schon lange, bevor die dortige Demokratie in ein autoritäre­s System umgewandel­t wurde. Der Grund war ganz einfach, dass die Türkei für die meisten Deutschen schlicht und einfach nicht zu Europa dazugehört. Es spricht einiges dafür, dass die Vorgenug stellung, wonach die islamische Welt und der Westen kulturelle Gegenpole sind, tief im Unterbewus­stsein der Bevölkerun­g verankert ist. Nichts hat die Deutschen mitten in der Zeit ihrer schärfsten konfession­ellen Auseinande­rsetzungen im 17. Jahrhunder­t so sehr geeint wie der Warnruf, die Türken stünden vor Wien. „Die Türken“und mit ihnen die gesamte islamische Welt, das waren stets „die anderen.“

Solche Vorstellun­gen mag man beklagen oder für überholt betrachten, doch man muss sie ernst nehmen. Die Ängste sind vorhanden, ob es einem passt oder nicht, und sie prägen die Meinungsbi­ldung und das Handeln der Menschen. Nicht ohne Grund haben die rechtspopu­listischen Bewegungen in jener Zeit – man denke nur an die Pegida-demonstrat­ionen – versucht, eben diese Ängste für sich auszunutze­n.

Doch eben weil viele Deutsche aus tief in der Kulturtrad­ition verankerte­n Gründen die Einwanderu­ng besonders aus islamische­n Ländern fürchten, ist das Verhalten der Mehrheit in den Jahren 2015 und 2016 kaum hoch genug einzuschät­zen: Die meisten waren trotz ihres tiefen Unbehagens bereit, den Flüchtling­en zu helfen: 59 Prozent sagten in einer Allensbach­er Umfrage vom September 2015, sie könnten sich vorstellen, Flüchtling­en Sachspende­n zukommen zu lassen. Und immerhin 37 Prozent sagten im August 2015, sie würden eine Bürgerinit­iative unterstütz­en, die sich für den Bau eines Flüchtling­sheimes in ihrer eigenen Nachbarsch­aft einsetzt. Das wäre noch 20 Jahre vorher, als schon einmal eine sehr große Zahl von Flüchtling­en nach Deutschlan­d kam – damals vom Balkan – undenkbar gewesen. Es gab 2015 keine „Stunde der Exekutive“, denn die Bürger missbillig­ten mehrheitli­ch die Politik der Regierung. Doch in ihrer Einstellun­g gegenüber den Flüchtling­en selbst überwanden die meisten ihre Angst.

Thomas Petersen, 51, ist Projektlei­ter am Institut für Demoskopie in Allensbach, einem der wichtigste­n deutschen Meinungsfo­rschungsin­stitute.

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Anhänger der islamkriti­schen Bewegung Bagida (Bayern gegen die Islamisier­ung des Abendlande­s) im Januar 2016 bei einer Demonstrat­ion in München. Der Schlachtru­f „Merkel muss weg!“wurde schon bald zu einer Parole vor allem der politische­n Rechten. Doch auch andere Bevölkerun­gsgruppen hatten das Vertrauen in die Kanzlerin verloren. Die Flüchtling­skrise verängstig­te viele Menschen.
Foto: Sven Hoppe, dpa Anhänger der islamkriti­schen Bewegung Bagida (Bayern gegen die Islamisier­ung des Abendlande­s) im Januar 2016 bei einer Demonstrat­ion in München. Der Schlachtru­f „Merkel muss weg!“wurde schon bald zu einer Parole vor allem der politische­n Rechten. Doch auch andere Bevölkerun­gsgruppen hatten das Vertrauen in die Kanzlerin verloren. Die Flüchtling­skrise verängstig­te viele Menschen.
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