Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Relotius-sound
mit einem gewissen „Sound“. Wie in seiner Reportage „Die letzte Zeugin“zum Thema Todesstrafe:
„An einem späten Januarabend, der Himmel über Joplin, Missouri, ist ohne Mond, verlässt eine kleine zierliche Frau ihr Haus, um einen Mann, den sie nicht kennt, sterben zu sehen. (...) Sie besorgt sich ein Greyhound-ticket für 141 Dollar nach Huntsville, Texas, und zurück. Sie hat nur eine Handtasche und einen leichten Rucksack mit einer Bibel, einer Zahnbürste und ein paar Keksen als Proviant dabei. Gayle Gladdis, 59, eine Frau mit schulterlangem Haar und Perlenohrringen, plant, nicht länger als 48 Stunden unterwegs zu sein, um das Böse aus der Welt zu schaffen.“
Der Relotius-sound besteht aus romanhafter Sprache, die vor abgenutzten, verkitschten Bildern nicht zurückschreckt und mit großem Pathos den Anschein erweckt, es gehe um die ganz großen Dinge: „das Böse“. Die Aneinanderreihung von Details suggeriert, Relotius sei hautnah dabei gewesen.
„Nichts davon ist wahr“, stellte der Spiegel bei einer nachträglichen Überprüfung von „Die letzte Zeugin“fest: Relotius habe Gladdis nicht begleitet, als sie mit dem Bus nach Huntsville fährt, um dort der Vollstreckung einer Todesstrafe beizuwohnen. Ja, wahrscheinlich gebe es die Frau nicht einmal.
Mit der Aufdeckung des Fälschungsskandals geriet auch die journalistische Darstellungsform der Reportage in Verruf. Sie sei mehr Dichtung als Wahrheit. Journalisten reagierten verunsichert und frag(t)en sich: Welches Detail sagt wirklich etwas aus? Wann wird die Schilderung eines Geschehens zu romanhaft? Wie geht man mit einem Geschehen um, das in der Vergangenheit spielt, und das rekonstruierend (nach-)erzählt werden soll? Inwiefern ist es legitim, über Hörensagen zu berichten? Diese handwerklichen Fragen sind mehr als bloße Fachfragen. Denn ihre Beantwortung – und Berücksichtigung – rührt direkt an die (berechtigte Leser-)frage: Wie glaubwürdig ist das, was ich da lese?
Neuen Anlass zu dieser Debatte lieferte vor allem und ausgerechnet jener Kollege, der Relotius auf die Schliche kam und der eben erst als „Journalist des Jahres“ausgezeichnet wurde: Juan Moreno. Er veröffentlichte im September ein Buch über den Fall. Es endet mit einer Episode, die Moreno nur vom Hörensagen kannte und nicht selbst überprüfte: Ein Spiegel-kollege sei nach Ende des Skandals in Kontakt mit Relotius gewesen. Der habe gesagt, er befinde sich in einer Klinik in Süddeutschland. „Tags darauf traf dieser Kollege eine Spiegel-sekretärin.
Die Frau hatte Relotius gerade auf dem Fahrrad gesehen. In Hamburg“, schreibt Moreno. Laut dem Anwalt von Relotius habe es diese Szene „so nie gegeben“. Hat Moreno es also für ein starkes Ende mit der Wahrheit nicht so genau genommen? Und warum sprach er nicht mit der Sekretärin? „Ich hab’ natürlich 30 Quellen dazu, weil die Frau das allen gesagt hat“, erklärte er. Eine schwache Verteidigung. Die Episode im Buch taugt gleichwohl nicht zum Skandal. Hätte Moreno die letzten Sätze im Konjunktiv formuliert, es hätte keine Aufregung gegeben.
Doch das ist das Gute an der Debatte über den „Fall Relotius“: Sie hat Journalisten und Öffentlichkeit sensibilisiert und damit einen Beitrag zu mehr Genauigkeit und Transparenz im Journalismus geliefert. Das ist mein Fazit, ein Jahr nach Bekanntwerden des Skandals.