Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Diese Schuld, diese verdammte Schuld
Drama Matthias Behr ist einer der weltbesten Fechter, als die abgebrochene Klinge seiner Waffe Olympiasieger Wladimir Smirnow tötet. Seinen Freund Wladimir. 35 Jahre bemüht er sich, dessen Witwe zu treffen. Dann endlich erhält er ihre Adresse. Und sie sag
Tauberbischofsheim/kiew Zwei Bilder stehen wie Leuchttürme am Anfang und Ende dieser Geschichte. Das eine, von dem Matthias Behr jahrzehntelang nicht zu träumen wagte, ist nagelneu. Wie einen kostbaren Schatz reicht er das Foto mit beiden Händen vorsichtig herüber. Es entstand erst vor ein paar Tagen auf einem Friedhof in Kiew in der Ukraine, vor einem Grab, auf dem eine pathetische Büste von der letzten Ruhestätte eines sowjetischen Sporthelden zeugt. Daneben stehen, eng beieinander, Behr und eine Frau. Sie ist die Witwe dieses Sporthelden, der Wladimir Smirnow heißt. Behr sagt: „Er war mein Freund.“Wie sehr hat er sich nach diesem Moment gesehnt.
Das liegt an diesem anderen, so unfassbar tragischen Moment vor fast 35 Jahren, der das Leben von Matthias Behr bestimmt hat. Als im Weltmeisterschafts-duell in Rom die abgebrochene Klinge des Florettfechters den damaligen Olympiasieger und Weltmeister Wladimir Smirnow tötete. Seinen Freund Wladimir. Behr hat jenen Moment wie eine Schuld mit sich geschleppt – 35 Jahre lang. Bis zu dieser Reise nach Kiew.
Behr, 62, der großgewachsene Mann aus der Fechthochburg Tauberbischofsheim bei Würzburg, ist der letzte namhafte Sportler aus der großen Zeit der „Goldschmiede“von Emil Beck. Heute leitet er dort den Olympiastützpunkt. Der ist jüngst ins Gerede gekommen, als
Die vier Tage in Kiew haben Spuren hinterlassen
mehrere Sportlerinnen behaupteten, jahrelang von einem Trainer sexuell belästigt worden zu sein. Laut
Spiegel soll Behr davon gewusst, aber nichts dagegen unternommen haben. Dieser dementiert das und sagt: „Ich fühle meinen guten Namen in den Dreck gezogen.“Ginge es ihm nun darum, seinen Ruf aufzupolieren, dann hätte er zu einer der wichtigsten Begegnungen in seinem Leben vielleicht ein Filmteam mitgenommen. Aber so allein, wie er 1982 gegen Smirnow kämpfte, so allein ist er jetzt ins Flugzeug gestiegen, um sich den Schatten seiner Vergangenheit zu stellen.
Die jetzige Adresse von Emma Smirnowa hat er erst im vergangenen Jahr von einem Journalisten erhalten, als er schon fast nicht mehr daran glaubte. Er hat Kontakt aufgenommen, dieser wurde immer intensiver, und vor kurzem hat ihn Emma Smirnowa per Internet und Telefon wissen lassen: „Ich bin bereit für deinen Besuch“– eine Nachricht, die er erhofft, aber nicht erwartet hatte.
Man sieht ihm bei der Rückkehr an: Die vier Tage in Kiew haben Spuren hinterlassen. Behr, der sensible Zweifler, wirkt entspannt und heiter wie lange nicht. Er erzählt zuerst zögernd, dann sprudelt es fast aus ihm heraus: Wie freundlich man ihn empfangen habe, vor allem aber, dass ihm keinerlei Vorwürfe ge- worden seien – im Gegenteil: „Emma Smirnowa hat mir erzählt, dass sie sich oft gefragt hat, wie schwer ich den Vorfall wohl genommen habe und wie es mir damit ging.“Behr wirkt erleichtert wie einer, der nach langen Jahren einen Freispruch bekommt – oder so etwas wie Vergebung. Wie er sich jetzt fühle? Der Vater zweier Töchter, verheiratet mit der ehemaligen Fecht-olympiasiegerin Zita Funkenhauser, schließt die Augen. „Unbeschreiblich. Ich bin am Ziel.“
Das wäre nicht möglich ohne das andere Bild, das diese Geschichte so prägt, das 1982 um die Welt geht und den Sportler Behr auf so traurige Art berühmt macht. Es fehlt bis heute in kaum einer Dokumentation über tragische Unfälle im Leistungssport. Mit blankem Entsetzen im Blick sitzt an jenem 19. Juli dieser junge Mann aus Tauberbischofsheim in Rom am Rande der Planche. Er will das Gesicht in sein Handtuch vergraben – und kann die Augen doch nicht abwenden von dem außerhalb des Bildes, an dem Helfer um das Leben seines Gegners Wladimir Smirnow kämpfen. Behrs Mimik fleht förmlich: „Bitte, lass es nicht wahr sein!“
Später irrt er durch die Halle und schreit: „Warum ich, mein Gott, warum nur ich?“Auch sein Fechtkollege Thomas Bach, heute Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, ist entsetzt. Bach verfolgt das Drama von der Tribüne aus. „An der Körperhaltung von Matthias sah ich: Es war etwas Furchtbares passiert. Sein Schock hat sich tief eingegraben in jeden, der dabei war“, wird er später in der
zitiert. Behr hat in den Jahren zuvor immer wieder mit Smirnow die Klinge gekreuzt. Dann, 1982, treffen die deutschen Florettfechter im Wmviertelfinale auf die sowjetischen. Es kommt zum Duell der Meister. Auf der einen Seite der Planche: Matthias Behr, 27 Jahre alt, Olympiasieger 1976, Weltmeister 1977, Weltcupsieger 1978. Ihm gegenmacht über: Wladimir Smirnow, 28 Jahre alt, Olympiasieger 1980, zweimaliger Weltmeister 1981. Noch viele Jahre später ist der Moment für Matthias Behr so präsent wie damals. Er trifft Smirnow im oberen Brustbereich. Die Klinge bricht ab, die Vorwärtsbewegung ist nicht mehr zu kontrollieren. „Ich habe gespürt“, sagt Behr, „wie die Waffe durch die Maske ging.“Der Rest verschwimmt in der Erinnerung.
Dieser eine Moment verfolgt Behr sein ganzes weiteres Leben. Es ist ihm kein Trost, dass Klingen damals häufig brechen, wenn zwei 85-Kilo-männer im Gefecht aufeinanderprallen. Bei Behr und anderen gehen damals allein in der Wmvorbereitung 20 solcher Klingen zu Bruch – ohne schlimme Folgen. Aber an diesem Tag nimmt das splitternde Metall seinen Weg durch ein Loch in der schadhaften, porösen Schutzmaske. Der Unfall führt zu heftigen Diskussionen um die Sicherheit der Athleten – und schließlich zu deutlichen Material-verbespunkt serungen bei Schutzwesten, Masken und Waffen.
Behr tröstet sich in den folgenden Jahren mühsam: „Vielleicht wurde ich vom Schicksal dafür auf eine grausame Weise auserwählt.“Der Sportler schwankt zwischen „Ich fechte niemals wieder“und „Ich muss weiterfechten, sonst zerbreche ich“. Sein Trainer Emil Beck fährt mit ihm in den Bayerischen Wald, damit er zur Ruhe kommt. Behr bleibt Smirnows Beerdigung fern. Er fürchtet, „dass man mich als Mörder beschimpft“.
Obwohl ihm niemand ernsthaft eine Schuld an dem tragischen Unfall gibt, legt sich das Ereignis wie eine Schlinge um den Hals, die sich im Lauf seines Lebens immer mehr zuzieht. Sportlich findet er wieder in die Spur: Im Einzel gewinnt er 1984 Silber bei den Olympischen Spielen in Los Angeles und 1987 bei der WM in Lausanne. Auch mit der Mannschaft feiert er weitere Erfolge: Silber bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul, Gold bei den Weltmeisterschaften 1983 und 1987. Was damals kaum einer weiß: Der Weltklassefechter kämpft noch immer gegen seine Schuldgefühle. Die Depressionen, die später von ihm Besitz ergreifen, haben ihre Ursache auch in diesem tragischen Ereignis von Rom.
Insgeheim bemüht sich Matthias Behr um Kontakt zur Familie seines toten Kontrahenten. Ihn, selbst Ehemann und Vater, treibt der Gedanke an Smirnows damals schwangere Witwe Emma um. Er hat das Gefühl, ihr den Mann genommen zu haben. Er will reden, Trost spenden, und nutzt dazu seine Kontakte in der internationalen Sportwelt. Hier und da erntet er oberflächliche Versprechen von Trainern, Sportlern und Funktionären, ihm zu helfen. Doch es folgen keine Taten. Behrs Bemühungen laufen ins Leere. Auf seine Briefe kommt keine Antwort. Inzwischen hat er Hinweise darauf, dass der Kontakt von sowjetischer Seite nicht gewollt ist. Seine Briefe an Emma sind nicht weitergeleitet worden, erst zehn Jahre später werden sie ihr ausgehändigt.
Das erfährt Behr bei seinem Besuch. Als er vor Emmas Haus aus dem Auto steigt, ist er angespannt. Wenn man die dabei entstandenen Bilder richtig deutet, geht es ihr zunächst genauso. Doch die Aufregung legt sich schnell. Sie bittet Behr in ihr Haus und stellt ihm ihre Familie vor. Der eine erfährt vom anderen, nach Smirnows Tod unter Depressionen gelitten und zeitweise
Plötzlich stimmt Emma ein Volkslied an
keinen Sinn mehr im Leben gesehen zu haben. Sie reden stundenlang. „Sie hat mir erzählt, wie sehr er mich geschätzt hat“, sagt Behr.
Vier Tage lang gewinnt der Mann tiefe Einblicke in das harte Leben von Emma Smirnowa in der Ukraine. Es fällt kein böses Wort, es kommt kein Vorwurf. Nur die besorgte Frage, wie es ihm ergangen ist, mit dem Vorfall. „Das war nicht zu erwarten“, schreibt er erleichtert in seine Reisenotizen. „Nein, auch in meinen kühnsten Träumen habe ich damit nicht gerechnet.“
Ein kleiner Film, mit dem Handy gedreht, zeigt Behr beim Grillen mit Emmas Familie. „Dann wurde aus der Stimmung heraus gesungen“, sagt er schmunzelnd. Emma singt ein ukrainisches Volkslied. Die Männer am Tisch stimmen mit ein. Am Ende summt auch Matthias Behr zumindest die Melodie leise mit: „Ich konnte in dem Moment nicht anders.“Vielleicht ist dies das schönste Bild vom Ende einer tragischen Geschichte.
Vorläufig, sagt Behr. Denn er hofft, dass Emma Smirnowa seiner Einladung zu einem Gegenbesuch in Deutschland folgt. Auf die nochmalige Frage, wie er sich jetzt fühle, horcht er einen Moment in sich hinein. Dann sagt er den Satz, der ihm noch vor kurzem nicht so leicht über die Lippen gekommen wäre: „Ich bin glücklich!“