Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Jerusalem – das ganz normale Chaos
Israel Ein Festival will das Miteinander der Kulturen in der Stadt fördern. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Bäume auf dem zentralen Zion Square mit einem Kompass ausgestattet werden mussten. Verrückt? Ja!
An eine Weiterfahrt ist erst einmal nicht zu denken. Rotweiß gestreiftes Absperrband flattert an der Straßenbahnhaltestelle in der Chel Handassa Street unweit des Damaskustors. Dutzende Frauen und Männer haben in sicherer Entfernung auf dem Gehweg Platz genommen oder stehen im Schatten. Ein herrenloses Gepäckstück ist für die Unterbrechung verantwortlich. Es muss erst von Spezialkräften kontrolliert werden, bevor es weitergeht. Alltag in Jerusalem. Alles balagan, wie die Einheimischen sagen. Das Wort wird im Hebräischen besonders oft verwendet und heißt im eigentlichen Sinn Unordnung und im übertragenen Verwirrung oder Chaos.
Von Letzterem ist an der Haltestelle nicht viel zu spüren. Niemand geht von einer Bedrohung aus, doch so sicher kann man sich in der Stadt nie sein. Gerade die Gegend rund um das Damaskustor war in den vergangenen Jahren immer mal wieder Schauplatz von terroristischen Akten geworden, von Messerangriffen und Schusswechseln zwischen Israelis und Palästinensern. Juden und Araber leben in Jerusalem meist in getrennten Welten.
Die „Seven Ways to dissolve Boundaries-tour“, ein Programmpunkt des Mekudeshet-festivals, will diese Grenzen überschreiten. Die Teilnehmer sollen in das Leben und in die Gedankenwelt von Israelis und Palästinensern eintauchen. Es ist eine Fahrt, die die Menschen an verschiedene Orte zu verschiedenen Realitäten bringt. Raus aus der Komfortzone, rein in das so vielschichtige Leben der Stadt, das die Teilnehmer auf ihrer Fahrt mit der Light Rail, der Stadtbahn, hautnah erleben. Auch die Straßenbahn war und ist in der Stadt umstritten – wie fast alles. Sie wurde erst 2011 in Betrieb genommen, besteht aus einer einzigen Linie und verbindet auf ihrer knapp 14 Kilometer langen Wegstrecke den Herzlberg im Westen der Stadt mit dem nördlichen Stadtteil Pisgat Ze’ev. Stadtplanerisch wird er zu den fünf Ringstadtvierteln um Jerusalem hinzugerechnet. Nördlich von Ost-jerusalem gelegen gehört das Gebiet allerdings zu dem nach dem Sechstagekrieg annektierten Bereich der Region Palästina. „Nach internationalem Recht wird der Stadtteil als eine israelische Siedlung im Westjordanland betrachtet und nicht als Stadtteil von Jerusalem. Die israelische Regierung sieht das anders“, erklärt Karen Brunwasser, Direktorin des Mekudeshet-festivals, den Konflikt. Die palästinensische Autonomiebehörde glaubt, dass diese Tramverbindung endgültig verhin- dert, dass Ost-jerusalem Hauptstadt eines palästinensischen Staates im Rahmen einer Zwei-staaten-lösung werden könnte. Eine balagane Situation.
Von all dem Zwist ist an diesem Nachmittag nichts zu spüren, als die Straßenbahn von West nach Ost fährt. Türen öffnen sich, Türen schließen sich, Menschen steigen ein und aus, quetschen sich an einem vorbei. Hier tummelt sich die ganze Bandbreite der Stadt: Touristen, orthodoxe Juden, Männer mit schwarzem Kneitsch-hut, Männer mit Kippa, Frauen mit Perücke oder Tuch, muslimische Frauen mit Tuch, Frauen ohne Tuch. Es gibt kein Warten an der Tür, bis die Menschen ausgestiegen sind, gleichzeitig geht es rein und raus – wenn es sein muss mit bissigen Kommentaren. Balagan!
Über Kopfhörer ist Karen Brunwasser zu hören, die den Teilnehmern der Tour eben dieses Leben in Jerusalem erklärt, das funktioniert. Mal besser, mal schlechter. Die Viertel rauschen vorbei, selber fühlt man sich bald als Teil einer Fernseh-dokumentation. „Sehen Sie sich die Menschen an, die einsteigen. Sehen Sie anders aus?“, ist nur eine der Fragen, die sie den gedankenverlorenen Teilnehmern mit auf den Weg gibt. An manchen Haltestellen steigen die Teilnehmer auch aus und treffen Menschen aus Jerusalem, die über das berichten, was
Kurz informiert
wichtig ist. Rabbi Aaron Leibowitz etwa. Er spricht bei Minztee und Mandelgebäck auf der Dachterrasse des Little Hotels am Zion Square über das, was er vor fünf Jahren in der Nachbarschaft seiner Gemeinde erlebt hat. Damals im Sommer 2011 kam es im ganzen Land zu massiven Sozialprotesten. Tausende gingen auf die Straße. Es war ein großes Balagan. Jeden Abend besuchte der Rabbi die Demonstranten im nahe gelegenen Park und sprach mit ihnen über ihre Wut, über ihre Ängste. Er ist ein Ansprechpartner geblieben: Jeden Donnerstag geht er auch heute noch in den Park, um Menschen zu treffen, die ihm ihre Sorgen anvertrauen wollen.
Im gegenüberliegenden Zion Square, haben die Veranstalter des Mekudeshet-festivals einen temporären Ort geschaffen, wo sich Menschen treffen und austauschen können: Auf dem Platz, der normalerweise eine Betonwüste ist, wurden Lounge-möbel aufgestellt, Bäume in beweglichen Kübeln drumrum drapiert. „Wir haben die Bäume in den Platz gerollt und daraus einen neuen Ort gemacht. Dann gingen die Diskussionen los“, erzählt Festivalleiterin Naomi Bloch Fortis. Es wurde befürchtet, dass die Bäume Schaden nehmen, wenn sie zu oft bewegt werden und ständig einem anderen Einfallswinkel den Sonnenstrahlen ausgesetzt sind. Jeder Baum auf dem Zion Square wurde schließlich mit einem Kompass versehen, damit er, egal wie er gestellt wird, immer im selben Winkel zur Sonne steht.
Im Gesamtbezirk Jerusalem leben knapp 690000 Juden und 327000 Araber. Landesweit gibt es gerade einmal 1,9 Prozent Christen. „In Jerusalem sind drei verschiedene Städte in einer. Vor zehn Jahren begannen die Diskussionen. Viele befürchteten, dass sich die Stadt in einem großen Nebeneinander verliert“, sagt Naomi Bloch Fortis.
Die Schustermann Foundation aus dem amerikanischen Tulson hatte sich für das Projekt Mekudeshet starkgemacht. Mit drei, vier Leuten nahm das Festivalteam 2010 seine Arbeit auf. Heute zählt das Team 20 festangestellte Mitarbeiter,
Am Ende des Abends ein ergreifendes Konzert. Es fließen sogar Tränen
das jährliche Budget liegt bei 3,5 Millionen Dollar. Naomi Bloch Fortis war von Anfang an dabei. „Jerusalem ist ein sehr komplexer Ort mit einer speziellen Stimmung. Ich habe das Projekt als große Herausforderung mit riesigem Potenzial gesehen. Schließlich wollen wir uns diesen Konflikt nicht nur anschauen. Was heißt diesen Konflikt? In Jerusalem gibt es 1000 Konflikte tägihnen / Von Miriam Zissler lich.“In diesem Jahr hat das Team eine andere Herangehensweise gewählt: Es hat alle Inhalte, wie Musik, Workshops oder Diskussionen, in ein dreiwöchiges Festival in den September gepackt. Erstmals kamen bei dem Projekt über Wochen hinweg Vertreter aller großen Religionen zusammen, beteten und sangen gemeinsam mit den verschiedenen Gemeinden.
Viele Menschen wurden in denletzten Wochen zusammengebracht: Da stand alles im Zeichen der Musik. Der äthiopische Ethio-jazzer Mulatu Astatke und die türkische Sängerin Selda gaben im Innenhof der Davidsburg vom Publikum gefeierte Konzerte. Der Senegalese Baaba Mal trat ebenfalls auf, obwohl er von einer Initiative im Internet dazu aufgerufen wurde, „sich mit dem palästinensischen Volk zu solidarisieren und das Konzert im besetzten Jerusalem zu boykottieren“. So ein Balagan! „Das kann man drehen und wenden, wie man will. Jeder, der hier spielt, gibt automatisch ein Statement ab“, sagt Bloch Fortis. Jeder, der an dem Programm von Mekudeshet – The Jerusalem Season of Culture teilnimmt, setzt auch ein Zeichen, dass ihm das Miteinander wichtig ist. In der letzten Nacht des Festivals sind es 700 Frauen und Männer, die die Nacht im Areal der Festung am Davidsturm gemeinsam verbringen. Nach einem Mitternachtskonzert im Innenhof der Burg geht es treppauf, treppab zu verschiedenen Orten der Anlage, wo Konzerte die Besucher durch die Nacht begleiteten.
Klezmer-sound auf der Aussichtsplattform der Festung, israelische Volkslieder in einem Innenhof, iranische Rhythmen im Keller der Festung. Zuerst bewegen sich die Besucher in kleinen Grüppchen ratschend und lachend durch die Anlage. Ab 3 Uhr morgens wird es stiller. Manch einer schläft auf den ausgebreiteten Deckenlandschaften ein. Die Nächsten blicken bei Gitarrenspiel ins Feuer. Viele bleiben in Bewegung, bewegen sich wie in Trance zu den dutzend Konzerten. Um 5 Uhr morgens kommen alle im Innenhof wieder zusammen. Dort singt die sephardische Sängerin Yasmin Levy bis die Sonne aufgeht ein emotionales und ergreifendes Konzert, bei dem auch Tränen fließen. Ihre Musik ist in Israel umstritten wie geliebt zugleich. Sie weiß, dass die radikalsten religiösen Menschen in ihrer Heimatstadt Jerusalem leben, setzt sich aber für eine andere Realität ein. Einer, in der Menschen mit verschiedenen Religionen und Kulturen friedlich zusammenleben. Gegenseitiger Respekt ist es, was sie sich für Jerusalem wünscht.