Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Terrorist oder Schimmelbekämpfer
Justiz Mehrmals wurden 2015 Großveranstaltungen wegen islamistischer Bedrohung abgesagt: Karneval in Braunschweig, Fußball in Hannover. Und ein Radrennen in Frankfurt. Jetzt steht ein Verdächtiger vor Gericht. Warum der Prozess ein Drahtseilakt werden kö
Frankfurt am Main Halil Ibrahim D. denkt gar nicht daran aufzustehen, als die drei Richter samt Schöffen den Gerichtssaal betreten. Vor sein fahles Gesicht mit den kleinen, blinzelnden Augen und dem langen schwarzen Vollbart hält er eine Ledermappe. Er sucht Schutz vor den Fotografen und Fernsehkameras. Trotz mehrfacher Aufforderung der Vorsitzenden Richterin bleibt der Angeklagte sitzen, schweigt erst trotzig und murmelt dann: „Mein Glaube verbietet es mir, für andere Menschen aufzustehen.“Der Prozess beginnt für D. mit einer Strafe von 200 Euro Ordnungsgeld – wahlweise mit vier abzusitzenden Tagen Ordnungshaft.
Der 36-jährige Deutsche mit Wurzeln in der Türkei ist vor der Staatsschutzkammer des Frankfurter Landgerichts angeklagt, eine schwere staatsgefährdende Straftat vorbereitet zu haben. Am 29. April 2015 werden D. und seine Frau zu Hause in Oberursel bei Frankfurt festgenommen. Die Polizei vermutet zu jenem Zeitpunkt, dass D. für den 1. Mai einen Sprengstoffanschlag auf das traditionelle Radrennen rund um Frankfurt plant.
Nach den Terrorwarnungen in Braunschweig, Bremen, Hannover und zuletzt München ist das wirkli- che Ausmaß der Gefahr immer unklar gewesen. Täter und Hintermänner blieben unentdeckt. Halil D. ist der erste Angeklagte seit den Mitgliedern der Sauerland-gruppe, der sich wegen dschihadistischen Anschlagsplänen vor Gericht verantworten muss. Er gibt der nebulösen Bedrohung erstmals ein Gesicht. Ob zu Recht oder zu Unrecht, muss der auf 30 Verhandlungstage angesetzte Prozess zeigen. 74 Zeugen sind geladen, 14 Sachverständige wird das Gericht hören, um sich ein Bild von dem Mann zu machen.
Ende April 2015. Bei der Durchsuchung von D.s Kellerwohnung findet die Polizei ein ganzes Arsenal an Waffen, Waffenteilen und Munition. Sichergestellt werden unter anderem zwei aufgebohrte Schreckschusspistolen, ein Übungsgeschoss für eine Panzerfaust sowie eine zündfähige Rohrbombe, gefüllt mit exakt 239 Nägeln, 22 Stahlkugeln und fünf Blindnieten, wie die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift vorträgt. Neben der Waffenkammer stoßen die Ermittler auf islamistische Gewaltvideos und 2,9 Liter Wasserstoffperoxid – eine Chemikalie, die sich zur Herstellung von Bomben eignet.
Dass D. vier Wochen zuvor einen falschen Namen angibt, als er in einem Baumarkt diese beträchtliche Menge von der Flüssigverbindung kauft, bringt die Ermittler erst auf dessen Spur. Eine Verkäuferin hat Zweifel und ruft die Polizei, nachdem D. und seine Familie den Baumarkt verlassen haben. Vielleicht ist dies ein Glücksfall, der viele Menschenleben gerettet hat. Denn anhand eines Fingerabdrucks ermitteln die Beamten die tatsächliche Identität des wegen Körperverletzung vorbestraften D. und stellen fest: Weder Polizei noch Verfassungsschutz haben den Mann bisher als Gefährder auf dem Radar. Möglicherweise handelt es sich um einen einsamen Wolf – einen Einzeltäter.
Die Beschattung beginnt. In den folgenden vier Wochen beobachten die Ermittler, dass D. „auf verdächtige Weise“immer wieder Landstraßen abfährt, auf denen das Rad- rennen stattfinden soll. Oder dass er auf Parkplätzen entlang der Strecke Pausen einlegt. Kundschaftet hier jemand einen geeigneten Anschlagsort aus? Die Ermittler befürchten es, wissen aber auch nicht, ob D. allein handelt. Vielleicht gibt es weitere Täter, weitere Bomben, weitere Anschlagsorte. Aus Sicherheitsgründen wird das Radrennen rund um Frankfurt mit mehr als 5000 Teilnehmern abgesagt.
Am ersten Verhandlungstag verliert D. abgesehen vom Scharmützel rund ums Sitzenbleiben keine Worte. Draußen sichert eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei das Gerichtsgebäude. Drinnen starrt der Angeklagte vor sich hin, würdigt die Vorsitzende Richterin Clementine Englert keines Blickes, auch wenn diese ihn anspricht. Dem arbeitslosen ehemaligen Chemiestudenten und Vater zweier Kinder drohen im Fall einer Verurteilung nach dem sogenannten Terrorparagrafen 89a bis zu zehn Jahre Haft.
Seit fast neun Monaten sitzt D. inzwischen in Untersuchungshaft. Seit seiner ersten Vernehmung beteuert er, die Chemikalie zur Bekämpfung von Schimmel in seiner Wohnung gekauft zu haben. Einen falschen Namen habe er beim Kauf angegeben, weil er nichts Unrechtes vorgehabt habe und keinen Ärger hätte haben wollen. Tatsächlich finden sich in D.s Wohnung Schimmelflecken. Manche wurden schon mit Wasserstoffperoxid behandelt, stellt ein Gutachter fest.
Es ist einer von mehreren Punkten, warum das anfangs so einleuchtende und stimmige Bild vom Ter- roristen aus Oberursel Risse bekommen hat. Von Anschlagsplänen auf das Radrennen rund um Frankfurt spricht die Staatsanwaltschaft nun nicht mehr. Es hätten sich keine hinreichenden Beweise dafür finden lassen. Stattdessen heißt es in der Anklageschrift recht unkonkret, D. sei „fest entschlossen gewesen, einen Anschlag auf eine Großveranstaltung zu verüben“. Dafür habe er die Rohrbombe verwenden wollen, gegebenenfalls andere Waffen.
„Eine gänzlich abstrakte Annahme“, kritisiert D.s Wahlverteidiger Ali Aydin, dem das tatsächliche Delikt nicht hinreichend beschrieben ist. Vergeblich versucht Aydin mit diesem Hinweis, die Verlesung der Anklageschrift zu verhindern. Der Anwalt sähe das gesamte Verfahren wegen des Terrorparagrafen gerne vor dem Bundesverfassungsgericht und stellt dazu auch einen Antrag. „Es handelt sich um Pseudotatbestände, die allein zur Gefahrenabwehr geschaffen wurden“, kritisiert er. Vor dem Hintergrund des Terrorparagrafen würde aus einer Alltagshandlung wie dem Einkauf in einem Baumarkt plötzlich eine Straftat. Damit sei dieser verfassungswidrig. „Es fehlt noch ein mutiges Gericht, das dem Bundesverfassungsgericht ein TerrorparagrafVerfahren vorlegt“, sagt Aydin.
Selbst wenn die Frankfurter Richter auch diesen Antrag der Verteidigung ablehnen werden: Staatsanwaltschaft und Landgericht haben in diesem Indizienprozess eine schwierige Aufgabe vor sich. Einen Anschlag gab es zum Glück nicht, konkrete Pläne dazu – ob niedergeschrieben oder per Telefonüberwachung eingefangen – allerdings auch nicht. Grundlage des Prozesses ist allein eine Aneinanderreihung von Indizien, wenn auch stimmig. Immerhin hatte D. Kontakt zu einem Mitglied der ehemaligen SauerlandGruppe. Von Fantasie statt Wirklichkeit spricht dagegen die Verteidigung.
Urkundenfälschung ist Halil D. nachzuweisen, auch der illegale Besitz von Waffen. Um aber zu dem Schluss zu kommen, dass er wirklich einen Sprengstoffanschlag auf eine
Er gibt der nebulösen Bedrohung ein Gesicht Gesichertes Wissen gibt es bislang nicht
Großveranstaltung plante, kann sich die Kammer in ihrem Urteil nicht auf gesichertes Wissen stützen, sondern nur auf Annahmen, auf ihren Glauben. Und bisher scheint es, als vermute das Gericht bei D. vor allem böse Absichten. Das übergeordnete Frankfurter Oberlandesgericht ließ die Anklage im Rahmen einer Haftprüfung D.s sogar noch einmal nachschärfen. Ein klares Indiz dafür, mit welcher Haltung sich auch das Landgericht in diesen juristischen Drahtseilakt begibt.
Die Schwester des Angeklagten sitzt am Donnerstag im restlos gefüllten Zuschauerraum und folgt der Verhandlung. Im Prozess wolle sie nicht aussagen, sagt Anwalt Aydin – ebenso wenig wie D.s Frau, die nach ein paar Wochen in Untersuchungshaft wieder in Freiheit entlassen wurde. Ihr konnte keine Beteiligung und kein Wissen über die Waffen nachgewiesen werden.
Der Angeklagte lässt nach den ersten Stunden des Prozesses mitteilen, dass er sich später äußern werde. Als die Vorsitzende Richterin den Angeklagten dann darauf hinweist, dass sich ein Geständnis strafmildernd für ihn auswirken würde, zieht Halil D. seine Augenbrauen zu einer ungläubigen Miene zusammen – wie so viele Male an diesem ersten Verhandlungstag.