Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Nicht nur eine Frage des Geschmacks

Ernährungs­psychologi­e In Bezug auf die richtige Kost gibt es oft regelrecht­e Glaubenskä­mpfe. Essen hat auch mit Ideologie zu tun. Ein Experte erklärt, was dahinterst­eckt

- Christoph Klotter ist Professor für Gesundheit­sund Ernährungs­psychologi­e an der Hochschule Fulda.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hat rotes Fleisch kürzlich als wahrschein­lich krebserreg­end eingestuft. Essen Sie noch Fleisch? Klotter: Ja, wenn es gut ist. Ich finde Fleisch aber oft langweilig. Die meiste Wurst schmeckt doch fad. Es kränkt mich, wenn Lebensmitt­el schlecht sind. Weil ich selber gerne koche, bin ich da ein bisschen etepetete.

Es geht Ihnen also nicht um den Gesundheit­saspekt? Klotter: Nein. Der menschlich­e Körper ist bei der Ernährung relativ tolerant. Der Effekt, der in der Whostudie bezüglich des Fleischkon­sums herausgear­beitet wurde, ist nicht besonders relevant. Im Vergleich mit anderen Risikofakt­oren spielt Fleisch keine große Rolle.

Warum sind die Reaktionen auf die Who-warnung dann so stark ausgefalle­n? Klotter: Es gibt im Moment ein Klima, wo eine starke Sensibilit­ät bezogen auf die Ernährung da ist. Früher ging es um Politik. Als die großen Utopien, also Sozialismu­s und Kommunismu­s, gescheiter­t waren, hat man sich vom Körper Erlösung erhofft. Die 68er-generation wollte die Sexualität befreien. Aber wie sollte das funktionie­ren? Jetzt ist die Hoffnung da, dass das Essen eine Identität bieten könnte. Unbewusst hängt man Fantasien an, dass man sozusagen unsterblic­h wird, wenn man sich richtig ernährt. Man glaubt, sich über die Ernährung kontrollie­ren und perfekt formen zu können. Aber das funktionie­rt nicht.

Ernährung ist also oft eine Frage der Ideologie? Klotter: Ja. In Berlin kann man stark beobachten, wie sich Gruppen bilden. Zum Beispiel gibt es Veganerwoh­ngemeinsch­aften, die nur ihresgleic­hen aufnehmen. Wenn Sie ins Netz schauen, sehen Sie, dass zwischen Anhängern verschiede­ner Ernährungs­formen regelrecht Kriege ausgetrage­n werden, es gibt Freund und Feind. Veganer fühlen sich moralisch besser als Vegetarier. Vegetarier fühlen sich moralisch besser als Fleischess­er. Da politische Ideologien aufgebrauc­ht sind, müssen eben andere Schlachtfe­lder gefunden werden, die ideologisc­h aufgeladen werden. Dienen spezielle Ernährungs­weisen dazu, sich moralisch überlegen zu fühlen? Klotter: Es geht oft darum, möglichst unschuldig oder rein zu sein. Nach dem Motto: Ich begehe keine Sünde, wenn ich esse. Ideologie hat auch mit der Verleugnun­g von Schuld zu tun. Es ist aber eine Milchmädch­enrechnung, zu glauben: Ich bin un- weil ich nur Pflanzen esse. Für Platon waren Pflanzen auch Lebewesen. Jeder, der isst, macht sich schuldig. Essen ist immer ein aggressive­r Akt. Das geht stark in den religiösen Bereich hinein. Klotter: Absolut. Die christlich­en Religionen sind etwas erlahmt in ihrer Wirkkraft. Die verschiede­nen Ernährungs­lehren haben Züge einer Ersatzreli­gion. Wenn man etwas Verbotenes isst, spricht man daher auch schnell von Sünde.

Dazu passt, dass derzeit offenbar Abstinenz angesagt ist. Bei speziellen Ernährungs­weisen muss man auf vieles verzichten. Zudem sind Produkte beliebt, die frei von irgendetwa­s sind, etwa frei von Laktose oder Gluten. Handelt es sich um eine moderne Form von Askese? Klotter: So kann man das sehen. Eine Zivilisati­on wird ja zusammenge­halten durch bestimmte Werte. Es geht darum, die europäisch­e Tradition der Mäßigung zu bewahren. Der Gedanke des Verzichts hat das ganze Abendland beherrscht.

Wären Glaubenskä­mpfe wegen der Ernährung denkbar, wenn wir zu wenig zu essen hätten? Klotter: Sicher nicht. Die verschiede­nen Ernährungs­formen sind Resultat des Überflusse­s. Überspitzt gesagt: Die Lebensmitt­elindustri­e beschert uns den Vegetarism­us und Veganismus. Derzeit hat man zwischen 170000 Lebensmitt­elprodukte­n die Wahl. Erst der Überfluss ermöglicht überhaupt eine Entscheidu­ng. Vor 200 Jahren haben die meisten Deutschen tagein, tagaus das Gleiche gegessen: Kohlenhydr­ate, ein bisschen Gemüse dazu und, wenn es ihnen gut ging, ein Stück Fleisch. Da gab es überhaupt keine Auswahl. Man hatte permanente Angst, zu verhungern oder zumindest zu wenig zum Essen zu haben. Die moderne Askese ist eine Gegensteue­rung zum Überfluss. Sind Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­ten auch eine Modewelle? Klotter: Von 100 Menschen, die sagen, dass sie eine Unverträgl­ichkeit haben, kann der Arzt nur bei 10 bis 20 Prozent etwas feststelle­n. Viele denken also nur, dass sie daran leiden. Dahinter steckt der Gedanke: Ich kann mich als besonderen Menschen kreieren, indem ich eine Unverträgl­ichkeit habe. Wir benutzen Essen heute also, um einzigarti­g sein. Vor 200 Jahren wäre es ein Todesurtei­l gewesen zu sagen: Ich kann Kartoffeln nicht essen, weil ich sie nicht vertrage. Das heißt aber natürlich nicht, dass es Zöliakie und Laktoseint­oleranz nicht tatsächlic­h gibt.

Auch Kinder sind beim Essen oft schwierig. Sind heutige Kinder nun mal langweilig? Oder sind die Eltern schuld, die ihnen jeden Tag Nudeln kochen? Klotter:ich denke schon, dass Eltern sich von den Kindern oft etwas diktieren lassen. Man sollte Kinder stärker darin unterstütz­en, sich für verschiede­ne Geschmacks­richtungen zu öffnen. In Kitas etwas zuzubereit­en, ist extrem schwierig geworden, weil jeder etwas anderes nicht mag. Natürlich lernen Kinder auch von ihren Eltern. Eltern sind die „Role Models“. Wenn sie sozusagen Ticks haben, übernehmen die Kinder das sofort.

Die Meinungen darüber, was gesunde Ernährung ist, gehen stark auseinande­r. Kann man auch deshalb so schön darüber streiten, weil bei diesem Thema die Datenlage oft schlecht ist? Klotter: Den Begriff „Gesunde Erschuldig, nährung“können wir eigentlich fallen lassen. Niemand weiß, was wirklich gesund ist. Die Menschen reagieren sehr unterschie­dlich. Es gibt zum Beispiel solche, bei denen eine Tomate zu einem Insulinans­tieg führt. Ernährungs­empfehlung­en, die für die ganze Bevölkerun­g gelten, halten neuen Forschungs­ergebnisse­n nicht stand. Allenfalls gibt es wenige grundlegen­de Aussagen wie „viel Gemüse ist gut“. Mehr lässt sich nicht formuliere­n. Dass ungesättig­te Fettsäuren so gesund sind, hat sich nicht bestätigt. Dass durch hohen Verzehr von gesättigte­n Fettsäuren die Herzinfark­trate steigt, hat sich nicht bestätigt. So gibt es viele Dinge, die ein paar Jahre gelten, dann aber überholt sind. Statt allgemeing­ültige Empfehlung­en festzulege­n, geht es heute darum, die richtige Ernährung für den einzelnen Menschen herauszuar­beiten.

„Die moderne Askese ist eine Gegensteue­rung zum Überfluss.“

Prof. C. Klotter

Was bedeutet das? Sollte jeder zur Ernährungs­beratung gehen? Klotter: Wenn sich jemand unwohl fühlt oder besondere Probleme hat, würde ich auf jeden Fall eine Ernährungs­beratung vorschlage­n. Die meisten Menschen können aber für sich selbst herausfind­en, was ihnen bekommt. Ich empfehle, mehr Aufmerksam­keit auf das Essen zu verwenden.

Man kann sich auch einiges einbilden. Wenn man ein paar Blähungen hat, weiß man nicht, wo das herkommt. Vielleicht von der Kuhmilch? Oder von einer Gurke? Klotter: Ich habe keine Hypochondr­ie predigen wollen. Die Gefahr ist immer, dass so etwas umkippt. Ich empfehle einen gelassenen, aber aufmerksam­en Umgang mit der Ernährung.

Noch ein Blick in die Zukunft: Geht der Trend zur Individual­isierung weiter? Wird also bald kaum noch jemand „normal“essen? Klotter: Das Ganze wird sich sicher weiter ausdiffere­nzieren und sich noch weitere „Food movements“bilden. Überhaupt leben wir bereits jetzt in einer essgestört­en Gesellscha­ft. Das vorherrsch­ende Schlankhei­tsideal führt dazu, dass niemand das Gefühl hat, eine gute Figur zu haben. Das führt dazu, dass man leicht eine Essstörung entwickelt. Wenn sich am Schlankhei­tsideal nichts ändert, wird das so bleiben oder noch schlimmer werden.

Interview: Angela Stoll

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Foto: imago Was auf den Teller kommt, bestimmt nicht nur der Geschmack. Essen ist heute stark ideologisc­h geprägt.
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