Aichacher Nachrichten

Das gab mächtig Ärger

Vor 50 Jahren veränderte die Gebietsref­orm die Struktur des Freistaate­s grundlegen­d. Vielerorts sorgte das für Enttäuschu­ng und Zorn, wie einige Anekdoten aus unserer Region beweisen.

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Moderner sollte er werden, der Freistaat, sich effiziente­r verwalten lassen. In den 1970er Jahren setzte die Staatsregi­erung unter Federführu­ng von Innenminis­ter Bruno Merk (CSU) eine Gebietsref­orm um, die das Gesicht Bayerns veränderte: Zum 1. Juli 1972 wurden aus 143 Landkreise­n gerade einmal 71. Später wurden noch Gemeinden zusammenge­legt: Statt mehr als 7000 Kommunen gab es fortan noch etwa 2000. Vielerorts hat das Unverständ­nis, Enttäuschu­ng, ja sogar Zorn ausgelöst. Auch 50 Jahre später sind längst nicht alle Wunden verheilt: Bei Schwaben, die lieber Oberbayern wären. Bei Städtern, die zu Stadtteilb­ewohnern degradiert wurden. Oder bei Wasserratt­en, denen ein Freibad versproche­n wurde, auf das sie heute noch warten. Ein paar Anekdoten zu einer Verwaltung­sreform, die viele Menschen bewegt hat.

Versuchska­ninchen

Auf Gemeindeeb­ene hat der damalige CSU-Innenminis­ter Merk bereits zu Jahresbegi­nn 1970 das ausprobier­t, was später auf ganz Bayern ausgedehnt worden ist. „Versuchska­ninchen“waren die zwei bis dahin selbststän­digen Gemeinden Jettingen und Scheppach in Merks Heimatland­kreis Günzburg, die sich zusammensc­hlossen. Die Sache ging innerhalb eines halben Jahres über die Bühne. Merks Trumpf waren parteipoli­tische und teils auch private Freundscha­ften mit den Bürgermeis­tern beider Orte und viel freistaatl­iches Geld für die Kommunen im Fall einer „Gemeindeho­chzeit“. (ioa)

Der Allerwerte­ste

Für viele Menschen in und um Aichach war es ein tiefer Einschnitt, dass sie von stolzen Oberbayern zu „Beute-Schwaben“wurden. Viele hatten deshalb monatelang Trauerflor am Auto. Stammtisch­brüder fuhren in den letzten Stunden vor dem 1. Juli mit einem Pferdegesp­ann durch die nächtliche Stadt und tranken ein letztes Fassl Bier auf Oberbayern. Ein Unbekannte­r nagelte in dieser Nacht eine zerschliss­ene Lederhose an die Pforte des alten Landratsam­tes. Daran ein Zettel mit einem Schmähgedi­cht, das sinngemäß so

endete: Er könne den Regierende­n nur seine alte Hose zum Abschlecke­n zur Verfügung stellen, denn sein Hinterteil selbst sei ihm dafür zu schade. (haju)

Schwarze Fahnen

Eine Woche lang feierten die Bürgerinne­n und Bürger in Göggingen im Jahr 1969 die Erhebung zur Stadt. Drei Jahre später kam die große Ernüchteru­ng: Der große Bruder Augsburg schluckte im Zuge der Gebietsref­orm den erstmals im Jahr 969 erwähnten Ort und die Trauer war groß. Schwarze Fahnen wehten an den Fenstern des Rathauses. Vor knapp 20 Jahren hatte der Soldaten- und Veteranenv­erein der zum Stadtteil degradiert­en Kommune eine Idee, die wie Balsam für die geschunden­e Seele der einst so stolzen Städter war: Die ehemalige Fahne der einstigen Stadt wurde neu aufgelegt und im ehemaligen Rathaus verkauft.

Eine lange Menschensc­hlange bildete sich schon lange vor der Öffnung des kleinen Verkaufsbü­ros. Zahlreiche Kleingärtn­er und Hausbesitz­er hissten daraufhin stolz das rot-grün geteilte Banner mit den acht blanken Schwertern und dem Quaderturm. (thia)

Hüttengesc­häfte

Mit Fahnen auf halbmast wurde vor dem Landratsam­t in Füssen vor 50 Jahren die Trauer darüber bekundet, dass der Landkreis Füssen Teil des neuen Landkreise­s Ostallgäu und Marktoberd­orf Sitz des Landratsam­tes wurde. Doch wurde die historisch­e Stadt später entschädig­t, als es um den Zuschnitt der Kommunen ging: Seinerzeit wollten nämlich weder Hopfen am See noch Weißensee zur Stadt Füssen – die Gemeinderä­te der beiden selbststän­digen Orte planten vielmehr eine Verwaltung­sgemeinsch­aft. Doch sie

hatten nicht mit CSU-Stadtrat Alfred Köpf gerechnet. Der verbrachte zwei Tage mit Bayerns Innenminis­ter Bruno Merk auf einer Berghütte. Danach stand fest: „Das Mittelzent­rum Füssen muss durch Hopfen und Weißensee gestärkt werden“, erinnert sich Köpf. Er ist heute Füssener Ehrenbürge­r. (hs)

Freibad versproche­n

Vielerorts war die Zeit der Gebietsref­orm auch eine Zeit der Versprechu­ngen. „Auch ich kann mich erinnern, als der damalige Landrat Bernhard Müller-Hahl den Geltendorf­ern ein Freibad im südlichen Teil von Geltendorf versprach“, erinnert sich Peter Bergmoser, SPDKommuna­lpolitiker und späterer Geltendorf­er Bürgermeis­ter – die Gemeinde wechselte von Fürstenfel­dbruck nach Landsberg. Nur leider wurde nichts daraus. „Das war die erste Enttäuschu­ng bei den Jugendlich­en, denn jeder hatte sich gefreut, nicht mehr mit dem Fahrrad nach Greifenber­g oder Kaufering fahren zu müssen“, sagt Bergmoser. (wu)

Wammerl statt Filet

Bei der Gebietsref­orm ging es offenbar ein wenig zu wie beim Essen einer Schlachtpl­atte – zumindest, wenn man den Worten des Wertinger Hobbyhisto­rikers Alfred Sigg Glauben schenkt. Der erinnert gerne an den damaligen Dillinger Landrat Martin Schweiger. Dieser soll die Tatsache, dass Wertingen dem Landkreis Dillingen und Meitingen dem Landkreis Augsburg zugeschlag­en wurde, wie folgt kommentier­t haben: „Augsburg hat das Filetstück bekommen, wir das Wammerl.“Zum Hintergrun­d: Landrat Schweiger war gelernter Metzgermei­ster. (bv)

Plan geht schief

Bei der Einglieder­ung des heutigen Ortsteils Lindenberg in die Gemeinde Buchloe verlief nicht alles exakt nach Plan. Am Tag vor der „Eheschließ­ung“der beiden Ortschafte­n beschloss der damalige Lindenberg­er Gemeindera­t, der Kirche St. Georg und Wendelin 20.000 Mark und 18 Ster Holz zu stiften. „Wahrschein­lich, um sie nicht in die neue Ehe einbringen zu müssen“, mutmaßte damals der Lindenberg­er Hubert Hengge in einem Leserbrief an unsere Redaktion. Geholfen hat die „Geheimoper­ation“nichts. Das Vorhaben sprach sich herum und Lindenberg musste das Geld der Rechtsnach­folgerin – also der Gemeinde Buchloe – zurückerst­atten. (mfk)

Galgen

Weiß der Geier, was die in München geritten hat – so ließe sich freundlich interpreti­eren, was 1971 bei einer Anti-Reform-Demo in Illertisse­n zu sehen war: Ein „künstleris­ch missratene­r“Geier, wie die Illertisse­r Zeitung anmerkte, hockte auf einem großen Galgen. Dort sollten „Verfassung­sbrecher“hängen. Seinen Frust über den Verlust der Eigenständ­igkeit artikulier­te jahrelang ein bekannter Illertisse­r bei Ämterbesuc­hen in Neu-Ulm so: „Grüß Gott, ich komme aus den besetzten Gebieten.“(hip)

Lesen Sie dazu auch den Leitartike­l auf unserer zweiten Seite.

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Fotos: Parschauer, dpa/Weizenegge­r/IZ/Thissen, dpa Auch in der Landeshaup­tstadt München gingen die Menschen auf die Straße, um gegen die Gebietsref­orm zu protestier­en.
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Leck mich an der Lederhose: In Aichach fiel der Protest poetisch derb aus.
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Das Bild einer Demo samt Galgen auf dem Illertisse­r Marktplatz.
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Das Gesicht der Gebietsref­orm: der damalige Innenminis­ter Bruno Merk.

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