Lüften lernen
Wochenlang haben Schulen geplant, Eltern gebangt und Kinder gewartet: Endlich ist das neue Schuljahr da. Über Erstklasskinder, die die Corona-Maßnahmen so gut kennen wie ihre eigenen Namen, Kurse am offenen Fenster und die Hoffnung auf ein wenig Normalitä
JettingenScheppach Der erste Schultag ist bunt. Daran ändern auch das Virus und all seine traurigen Folgen nichts. Im Gegenteil: Der Schuljahresbeginn ist sogar noch ein bisschen farbenfroher als sonst. Weil nämlich nicht nur der Schulranzen zur Schultüte und die Schultüte zum Outfit passt, sondern bei vielen Kindern auch noch der Mundschutz die passende Farbe trägt. Nimm das, Corona!
Die sechsjährige Luisa – rosablauer Ranzen, Sternen-Schultüte in Rosa-Blau und rosa Maske – wird an diesem Dienstag an der Grundschule Jettingen-Scheppach eingeschult. Sie ist ein wenig aufgeregt, als ihre Mutter Miriam im eigens eingerichteten Schnelltest-Zimmer der Schule noch kurz vor dem Gong einen Nasenabstrich an ihrer Tochter vornimmt. Die neuen, sensiblen PCRTests für Grundschulen werden erst im Laufe der Woche geliefert. „Wir sind froh, dass es jetzt losgeht“, sagt Miriam Schmidt. Ihr innigster Wunsch für das Schuljahr: „Normalität.“Luisas große Hoffnung: bald die Schultüte auspacken zu dürfen. Ist das nervig mit der Maske und dem Stäbchen in der Nase? „Nicht so“, sagt die Sechsjährige, als sie mit negativem Ergebnis und Mama an der Hand über den Parkplatz hinweg zum Haupteingang ihrer neuen Grundschule marschiert.
Maske auch im Unterricht, Testpflicht im Klassenzimmer und regelmäßig lüften: Das sind die Voraussetzungen, unter denen für rund 1,64 Millionen Kinder und Jugendliche in Bayern die Schule startet. Pandemie-Jahr Nummer drei, mit einem laut Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) besonders dichten Sicherheitsnetz und diesem einen riesigen Wunsch, nicht nur im Gespräch mit Mutter Miriam Schmidt, sondern mit allen hier in Scheppach: Normalität. Kein Distanzunterricht mehr, keine Quarantäne, keine Isolation von Schulfreundinnen und -kumpels.
Für 121000 Erstklässlerinnen und Erstklässler ist es sogar ein ganz neuer Lebensabschnitt. Es könnten noch deutlich mehr sein, doch manche Eltern möchten erst gar nicht, dass ihr Kind in Pandemie-Zeiten eingeschult wird. Das zeigt sich an der Wahlfreiheit für sogenannte „Korridor-Kinder“. Eltern von Kindern, die zwischen dem 1. Juli und dem 30. September sechs Jahre alt werden, können wählen, ob ihr Nachwuchs in die Schule gehen oder noch ein Jahr länger im Kindergarten bleiben soll. In der Corona-Zeit haben sich mehr Eltern als sonst für den Kindergarten entschieden. Eine neue Statistik soll es zwar erst im Oktober geben, doch im vergangenen Pandemie-Schuljahr verschob mehr als die Hälfte der Eltern, die die Wahl hatten, die Einschulung um ein Jahr nach hinten. Sie hatten Angst, dass ihr Nachwuchs nicht genügend lernt. Dass Kinder von Anfang an Lücken anhäufen, die man nie mehr füllen kann. Im letzten Schuljahr vor Corona hatten nur vier von zehn Familien ihr Kind zurückstellen lassen.
Warum sie hier mit Maske im Klassenzimmer sitzen, muss man den Erstklässlerinnen und ihren Mitschülern der Klasse 1a in Jettingen-Scheppach bei Günzburg nicht lange erklären. Fast die Hälfte der Finger schnellt in die Höhe, als Lehrerin Regina Schönekeß das fragt. „Sonst kommt Corona in den Mund und in die Nase“, sagt Elif, rosa Pferdeschultüte, rosa Mund-NasenSchutz. Dann hält die Lehrerin ein durchsichtiges Fläschchen in die Luft. Wieder wissen die Kinder Bescheid: „Desinfektionsmittel!“, ruft ein Junge, obwohl die Lehrerin eigentlich erst mal nach seinem Namen gefragt hatte.
In Jettingen-Scheppach werden Schuljahr 75 Erstklasskinder eingeschult – verhältnismäßig viele. Die große Willkommensfeier mit Oma, Opa, Geschwistern, Paten, Musikeinlagen und Büfett ist verboten, stattdessen hält Schulleiter Andreas Spatz an diesem Vormittag eben dreimal dieselbe Rede vor verschiedenen Gesichtern. Nach Klassen getrennt werden die Eltern in die Turnhalle geschleust, vorbei an der Türsteherin, die an normalen Schultagen Förderstunden gibt. Einlassvoraussetzung: das negative Testergebnis des Kindes. So gibt es das Kultusministerium in seinem fünfseitigen Hinweisschreiben zum ersten Schultag vor.
Hinter jedem Namen steht am Ende ein Haken. Trotzdem gilt: Abstand halten, für die Dauer der Willkommensfeier sogar vom eigenen Kind. Das ist der traurigste Moment an diesem Vormittag. Zum Glück gibt es in Scheppach einen Schulsong. Zum Glück haben die Viertklasskinder ihn für die Neuankömmlinge auf Video eingespielt: „Schule macht Spaß.“Es klingt ein bisschen blechern in diesen Tagen.
Gegen Mittag, als er seine Willkommensrede längst auswendig kann, wird Rektor Spatz trotz allem ein positives Fazit ziehen: „Die Stimmung unter den Eltern ist gut. Sie sind froh, dass die Schule überhaupt startet und dass sie dabei sein durften.“Mit regelmäßigen Tests sind die meisten Eltern einverstanden, viele Kinder kommen schon mit negativem Ergebnis in der Schule an. Miriam Schmidt, Luisas Mama, hofft nur darauf, dass die Maskenpflicht ab Oktober wegfällt – auch wenn der rosa Mundschutz noch so gut zur Kleidung ihrer Tochter passt. Mit der Lehrerin zu kommunizieren, ohne deren Mund zu sehen, neue Kinder kennenlernen, aber nicht deren Gesicht: „Das finde ich schwierig.“
Eine Garantie darauf, dass das komplette Schuljahr im Klassenzimmer stattfindet, wollte Bayerns Kultusminister bislang nicht geben – trotz eines noch so dichten Sicherheitsnetzes, trotz Testen, Masken, Abstand und Luftfiltern. Die stehen zumindest in rund einem Drittel der bayerischen Klassenzimmer – bei weitem nicht in jedem, wie es Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vor den Sommerferien vorgegeben und dafür ein Förderprodieses gramm aufgelegt hatte. Am Dienstag hat Söder bei einem Schulbesuch jetzt selbst „Nachholbedarf“bei diesem Thema eingestanden. Viele Kommunen verzichteten bisher auf eine Bestellung – wegen ungeklärter Fragen zur Anschaffung und eben auch, weil sie nicht zehntausende Euro für die Geräte ausgeben wollten, die am Ende in virenbedingt zugesperrten Klassenzimmern langsam zu Elektroschrott werden.
In Jettingen-Scheppach setzt der Schulträger auf eine dauerhafte Lösung, will fest installierte Filteranlagen einbauen lassen. Dafür gibt es ein Förderprogramm vom Bund. In der ersten Ferienwoche hätten sie den Antrag gestellt, erzählt der Schulleiter. Doch statt innerhalb weniger Tage kam die Genehmigung nach fünf Wochen. Bis die Ausschreibung durch ist und die Anlagen dann Viren aus der Luft filtern, könnten Monate vergehen.
In der Klasse von Regina Schönekeß steht an diesem Vormittag nun auch das Lüftenlernen auf dem Stundenplan. Acht Fenster, an sonnigen Herbsttagen können sie immer offen bleiben. Wie das im Winter werden soll, in der Virensaison, wenn die Filter immer noch nicht da sind, die Kinder mit Decken im eisigen Klassenzimmer sitzen?
Bei diesem Gedanken friert es Lehrerin und Schulleiter jetzt schon. Zwar müssen im Fall eines positiv getesteten Kindes ab sofort nur noch der oder die Betroffene und unmittelbare Kontaktpersonen in Quarantäne, zwar kann man sich nach fünf Tagen freitesten. Aber sobald es mehrere Ausbrüche gibt in einer Klasse: Ist dann doch wieder Distanzunterricht angesagt? Selbst an diesem warmen ersten Schultag mit all seinem aufgeregten Gewusel gehen Andreas Spatz solche Fragen im Kopf herum.
Um für mehr Sicherheit zu sorgen, testen sich ab 20. September Kinder an Grund- und Förderschulen mit sensiblen Lolli-Tests. Seit Montag erklärt auf Youtube „Dr. Kasperl“aus der Augsburger Puppenkiste im hochoffiziellen Auftrag des Kultusministeriums, wie sie funktionieren. An weiterführenden Schulen werden wie bisher die deutlich weniger verlässlichen „Nasenbohrer“-Schnelltests verwendet – was unter anderem der Bayerische Philologenverband zum Schulbeginn kritisierte: „Schade, dass die Puppenkiste nur für Grund- und Förderschulen spielt. An weiterführenden Schulen bleibt es beim alten Schnelltest-Theater“, schreiben die Vertreter der bayerischen Gymnasiallehrer auf Twitter und kritisieren die fehlende Sicherheit.
An Bayerns Grund- und Förderschulen landen zehntausende Schnelltests jetzt in den Abstellkammern. Wie er die 4000 Stück loswerden soll, die noch in braunen Kartons in der Scheppacher Schule lagern – Spatz weiß es nicht.
Was ebenfalls unklar ist: Wie groß die Lücken sind, die Monate des Distanzunterrichts bei Kindern und Jugendlichen gerissen haben. Bis heute gibt es dazu keine Studie. Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, hat sich in anderen Ländern umgesehen und herausgefunden, dass Grundschülerinnen und Grundschüler allein in den ersten Lockdown-Wochen durchschnittlich ein halbes Schuljahr an Wissen einbüßten. Aktuell sei es „wichtiger denn je, den Leistungsstand der Lernenden festzustellen: Was wissen sie? Wo haben sie Stärken, wo liegen die Defizite?“, sagt Zierer im Gespräch mit unserer Redaktion. Erst mit diesen Erkenntnissen könne „Unterricht so gestaltet werden, dass Schülerinnen und Schüler möglichst erfolgreich lernen“.
Zierer bildet an der Uni Augsburg die Lehrkräfte aus, die in den kommenden Jahren in Bayern die Folgen der Corona-Pandemie beseitigen müssen. Und weil diese noch lange zu spüren sein werden, hat Zierer sogar das Studium verändert: „Wo sind die Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung? Wie kann es Familien gelingen, mit dieser Krise so umzugehen, dass ihre Kinder keinen Schaden in ihrer Entwicklung nehmen?“All diese Fragen fänden jetzt Eingang in die Lehrerbildung.
Der Pädagogik-Experte versteht jede Mutter und jeden Vater, die jetzt verunsichert sind und sich um ihre Schulkinder sorgen. „Umso wichtiger ist es aus meiner Sicht, dass vonseiten der Schulen Kontakt zu den Elternhäusern gehalten und sich gegenseitig ausgetauscht wird. Was es nicht wieder geben darf, ist, dass Elternkontakte pandemiebedingt einfach ausfallen.“Viele Eltern
Manche Eltern verzichten auf die Einschulung
Übungsstunden für Kinder mit Nachholbedarf
in Bayern hatten gerade im ersten Corona-Schuljahr beklagt, dass die eine oder andere Lehrkraft anfangs gewissermaßen untergetaucht sei – häufig aus technischer Überforderung heraus.
An der Grundschule in JettingenScheppach haben sie immer Kontakt gehalten. Nur wenige Schulen in Bayern sind digital so gut ausgestattet, jedes Kind bekommt hier sein eigenes Tablet, Eltern und Lehrkräfte kommunizieren über eine Software, mittels Online-Analyse hat die Schule für jedes der älteren Kinder den Leistungsstand ermittelt. „Kinder, die von zu Hause viel Unterstützung bekommen, sind auf einem guten Stand“, sagt Rektor Spatz. „Wer ein wenig Nachdruck benötigt und auf eine intensive Rückmeldung der Lehrkräfte angewiesen ist, braucht jetzt Zeit zum Aufholen.“Über ein Programm des Ministeriums („Gemeinsam Brücken bauen“) hat er zusätzliches pädagogisches Personal bekommen. Dieses bietet über das ganze Schuljahr hinweg Übungsstunden für einzelne Kinder an. Jede Schule in Bayern kann das Angebot nutzen. Auch in der Klasse 1a schaut an diesem Morgen neben der Lehrerin eine zweite Aufsicht im Klassenzimmer, welches Kind Hilfe braucht.
Die Hygienemaßnahmen haben alle Kinder verstanden. „Habt ihr noch Fragen?“, will die Lehrerin wissen. Ja, eine wäre da noch: „Wann dürfen wir unsere Schultüte auspacken?“Das klingt doch fast nach Normalität.