Ein Leben gegen das Vergessen
Charlotte Knobloch entkam den Nazis. Ihre geliebte Großmutter wurde in Auschwitz ermordet. Wie sie trotz allem lernte, ihre Heimat München wieder zu lieben
Es gibt immer weniger Menschen, die Nazi-Terror und Zweiten Weltkrieg am eigenen Leib erfahren mussten. Charlotte Knobloch ist eine von ihnen. Die Jahre des Schreckens prägten ihre Kindheit. Bis heute hält die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern die Erinnerung wach, damit so etwas nie wieder geschieht. Das einstige „Land der Mörder“ist für sie wieder zur geliebten Heimat geworden. „Ich bin ein Münchner Kindl – durch Geburt, daran kann ich nichts ändern“, sagte sie einmal.
Dass Knobloch dort wieder ihren Platz finden würde, war vor mehr als 70 Jahren nicht sehr wahrscheinlich. Als Charlotte Neuland wurde sie hineingeboren in eine großbürgerliche, religiöse jüdische Familie. Ihr Vater war Rechtsanwalt in München, der Großvater besaß ein renommiertes Bekleidungsgeschäft in Bayreuth. Doch die geborgene Kindheit währte nicht lange. „Von den Kindern, denen gesagt wurde, sie dürften nicht mehr mit mir spielen, bin ich als erstes diskriminiert worden“, erinnert sie sich. „Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich irgendwie anders bin.“Als das Mädchen vier war, verließ ihre Mutter, eine konvertierte Jüdin, unter dem Druck der Nazis die Familie. Ein Schock, den die Großmutter auffing – eine gläubige, elegante und liebevolle Frau, die zur wichtigsten Person im Leben jener Frau wurde, die am Sonntag 85 Jahre alt wird.
Am 9. November 1938 erlebt die damals Sechsjährige die Pogrome hautnah mit. Eindrücklich waren für sie die verzweifelten Menschen, die ihren Vater besuchten. „Ich musste zuhören und sehen, wie die Menschen verängstigt waren und geweint haben.“Um seine Tochter vor der Deportation zu bewahren, brachte der Vater sie 1942 ins mittelfränkische Arberg. Dort wohnte eine Freundin der Familie. Sie gab das Mädchen als uneheliche Tochter aus und rettete ihr so vermutlich das Leben. Nach dem Krieg zog Charlotte mit ihrem Vater nach München – ohne die Großmutter, die in Auschwitz ermordet worden war. Anfangs wollten Knobloch und ihr Ehemann, den sie 1951 geheiratet hatte, auswandern. Doch dann kamen die Kinder und die Familie fing stattdessen an, den Juden wieder einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Ihr Vater wurde Präsident der Münchner Kultusgemeinde, ein Amt, in dem sie ihm 1985 nachfolgte. 2006 bis 2010 war sie sogar Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Eine engagierte, auch umstrittene Präsidentin, die sich kämpferisch einmischte.
Bis heute verstehen nicht alle, warum sie nicht doch ausgewandert ist. Ihre Enkelin aus Israel fragte sie einmal: „Warum lebst du überhaupt in diesem Land?“Eine berechtigte Frage, meint Knobloch. Doch vieles habe sich zum Positiven verändert. „Wir wussten, dass wir im Land der Mörder lebten, so wurde das damals genannt. Aber wir wissen auch, dass wir in einem freiheitlich-demokratischen Land leben.“