Die neuen Krisen der Verantwortung
Was wir kaufen, verändert die Welt genauso wie die Stimme, mit der wir wählen. Aber auch zwischen Politik und Wirtschaft, Staaten und Bündnissen ist die Frage so umstritten wie zukunftsweisend: Wer ist wofür zuständig?
Im Ideal war die Frage für den großen deutschen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant eindeutig zu klären. In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“schrieb er unter anderem, dass wir zur Hilfe gegenüber Flüchtlingen verpflichtet seien, wenn die Alternative deren Untergang sei, dass es ein Weltbürgerrecht geben müsse… – aber als zentrale Voraussetzung all dessen eben auch: dass es die Organisation eines globalen Völkerbundes, einer Weltrepublik geben müsse, die die Verantwortung trage und verteile. Wie weit die Wirklichkeit davon entfernt ist, hat sich jüngst erst wieder bei der UN-Versammlung in New York gezeigt.
Das zentrale Wort in der Rede Donald Trumps lautete „Souveränität“, gelobt dafür von Russlands Außenminister Lawrow. Die Aussage war: Wofür die USA verantwortlich sind, darüber entscheiden ausschließlich die USA. Gerichtet an die heimische Bevölkerung verspricht das: „America first“– es geht zuerst und immer um die Amerikaner. Eine das Nationale betonende Auffassung, die in Zeiten des globalisierten Handelns international Konjunktur hat. Auch im Wahlergebnis des wirtschaftlich starken Deutschlands spiegelt sich das Erstarken des Wunsches, gerichtet an die Politik: Ihr Regierenden, ihr habe euch zu wenig für die Sorgen der Menschen zu Hause zuständig gefühlt – Deutschland zuerst!
Wer ist wofür verantwortlich? Wer kann von wem wofür verantwortlich gemacht werden? Die beiden Fragen ziehen sich durch die politischen, die wirtschaftlichen, aber auch durch die persönlichen Umbrüche unserer Gegenwart. Als Konsumenten können wir immer besser Bescheid wissen darüber, woher die Produkte stammen, die wir kaufen, und was sie verursachen, in der Welt, in unserem Umfeld, in unserem Körper. Ob wir die Verantwortung wollen oder nicht: Mit der Summe unserer Einzelentscheidungen gestalten wir die Welt mit – und die Kette vom Billigkonsum hier über die Umweltausbeutung in der Ferne bis zur Elendsmigration aus der Ferne hierher ist offenkundig geknüpft. Wer zu viel darüber nachdenkt und sich dafür genauso zuständig fühlt, wie er sich für die Folgen für den eigenen Körper unweigerlich zuständig fühlen muss, könnte seine Freude am Konsum verlieren. Der aber sorgt ja wiederum für das nötige Wachstum…
Ebenso widersprüchlich in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit erscheint das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, von Staaten zu Staatenbünden. Wenn es etwa darum geht, dass die global operierenden Unternehmen in Standards des Steuerzahlens und der Datensicherheit eingebunden werden müssen, um für intakte Gesellschaften zu sorgen, dann ist die Verantwortlich- keit der Europäischen Union ziemlich unumstritten. Sie funktioniert als Interessenvertretung. Wenn es dagegen bei Finanzen und Migration um einen Lastenausgleich zwischen den Mitgliedern im Interesse des gemeinsamen Gebildes geht, entbrennt der Kampf der nationalen Lobbyisten. Hier etwa zeigt sich auch die in den vergangenen Jahren geänderte Rolle Deutschlands als der stärksten Wirtschaftsmacht der EU in einer neuen Verantwortung. Und die Probleme in der Finanzund der Flüchtlingskrise zeigten und zeigen noch immer, dass an der Frage der Zuständigkeit der Staatenbund sogar scheitern kann.
Und die Konflikte setzen sich im Inneren nicht weniger den Zusammenhalt gefährdend fort. Die Publizistin Thea Dorn wies darauf hin, dass die Politik blind zu werden drohe für die Notwendigkeiten und deren Prioritäten ihrer Verantwortung. Denn eine Regierung sei in Zeiten einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft, die immer weniger die klassische Mehrheit und immer mehr das Nebeneinander von Minderheiten sei, ja eigentlich für die gleichen Rechte aller zuständig. Und während im Wettkampf der Lobbys mit ihren Eigeninteressen sich die liberale Wohlstandsgesellschaft entfaltet, droht eigentlich deren Spaltung an der Frage des nationalen Interesses.
Parteien bieten sich im Wahlkampf als Träger der Verantwortung an und zeigen in ihren Programmen, wofür sie sich vor allem zuständig fühlen wollen. Die Bürger entscheiden, wem sie ihr Vertrauen dafür aussprechen – oder, wie es nun in größerer Zahl auch in Deutschland der Fall war: dass ihr Misstrauen dominiert und sie deshalb dagegen stimmen. Wer auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft die Grenzen der Verantwortung nicht festlegt, verlangt womöglich mehr Vertrauen, als es manche Bürger noch bereit sind als demokratisches Darlehen zu geben.
Andererseits: Zehn Jahre ist es her, dass der inzwischen gestorbene Soziologe Ulrich Beck seinen Klassiker über die „Risikogesellschaft“, in der wir als Folgen des modernen Konsums leben, zu einem Buch „Weltrisikogesellschaft“erweitert hat. Darin zeigt er, wie es nicht aufgrund moralischer Ideale zu einer „Welt ohne Grenzen“kommen müsse, sondern dass künftige Großrisiken die Menschheit einer neuen nationenübergreifenden Zwangsgemeinschaft zusammenschweiße.
Angela Merkel etwa betonte in der Flüchtlingskrise, dass die entscheidenden Fehler nicht 2015, sondern in all den Jahren zuvor gemacht wurden, als die Probleme bereits absehbar waren, sich aber niemand zuständig fühlen wollte. Wer die Verantwortung übernimmt, riskiert immer auch, dafür die Schuld tragen zu müssen. Wer keine Verantwortung übernimmt, riskiert dagegen, dass die Gefahr für alle größer wird.