Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (10)
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehmer Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben … Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich
Ich stand auf und nahm sie in die Arme, und sie schmiegte sich nicht an mich, sträubte sich aber auch nicht, und als sie sich von mir löste, küsste sie mich auf die Backe und strich mir über den Kopf. „Du bist ein guter Junge.“
Ich hatte wirklich keine Angst. Ich wusste, dass ich mich auf ein Vergehen einließ und, sollte ich gefasst werden, als Rechtsanwalt erledigt war. Es war mir egal. Irene und ich würden ein anderes, besseres Leben finden. Wir konnten nach Amerika gehen, ich würde nachts kellnern und tags studieren und bald wieder obenauf sein, als Jurist oder Mediziner oder Ingenieur. Sollten die Amerikaner keinen verurteilten Rechtsanwalt haben wollen – warum nicht nach Mexiko? Ich hatte in der Schule ohne Schwierigkeit Englisch und Französisch gelernt, ich würde auch Spanisch ohne Schwierigkeit lernen.
Aber vor dem Einschlafen schüttelte es mich und schlugen meine Zähne aufeinander. Ich zitterte auch
noch, als ich alle Decken aufs Bett gelegt hatte, die ich finden konnte. Schließlich schlief ich ein. Am Morgen wachte ich schweißnass im schweißnassen Bett auf.
Es ging mir wieder gut. Mir war leicht, und zugleich spürte ich eine unbändige Kraft, der nichts würde widerstehen können. Es war ein wunderbares, ein einzigartiges Gefühl. Ich erinnere mich nicht, davor oder danach noch mal so gefühlt zu haben.
Es war Sonntag. Ich frühstückte auf dem Balkon, die Sonne schien, in der Kastanie sangen die Vögel, und von der Kirche klangen die Glocken herüber. Ich dachte ans Heiraten, ob Irene in der Kirche geheiratet hatte und in der Kirche würde heiraten wollen und ob ihr die Kirche etwas bedeutete. Ich träumte unser gemeinsames Leben in Frankfurt, zuerst auf diesem Balkon, dann auf dem Balkon einer großen Wohnung am Palmengarten, dann in einem Garten unter alten Bäumen am anderen Ufer. Dann träumte ich uns an der Reling des Schiffs, das uns über den Atlantik brachte. Ich nahm von allem Abschied, von der Kanzlei, der Stadt, den Menschen. Es war ein Abschied ohne Schmerzen. Ich fühlte für mein altes Leben nur freundliche Gleichgültigkeit.
Ich fuhr früh los und war doch nicht zu früh. Das Dorf feierte ein Fest, Marktplatz und Hauptstraße waren gesperrt, und der Verkehr quälte sich durch die Nebenstraßen. Ich parkte am Friedhof, fand einen Weg durch die Weinberge, den ich für eine Abkürzung hielt, der aber keine Abkürzung war, und traf in einem Wald auf die Straße, die zu dem Viertel mit Gundlachs Haus führte. Als mich das erste Auto überholte, fiel mir ein, dass auch Schwind diese Straße nehmen würde und mich nicht sehen durfte; von da an folgte ich der Straße unter den Bäumen und durchs Gebüsch.
Ich hatte mich unauffällig angezogen, Jeans, beiges Hemd, braune Lederjacke, Sonnenbrille. Aber als ich aus dem Wald in das Viertel mit sonntäglich leeren Straßen und gelegentlich einer Familie auf einer Terrasse unter einem Sonnenschirm kam, fühlte ich alle Augen auf mich gerichtet, die der Familien auf den Terrassen und die hinter den Fenstern. Kein anderer Fußgänger war unterwegs.
Ich mied den direkten Weg durch das Viertel, auf dem Schwind mich hätte sehen können, verirrte mich in den gewundenen Parallel- und Seitenstraßen und erreichte Gundlachs Haus um wenige Minuten nach 17 Uhr. Der Parkplatz vor der Garage war leer. Ich drückte mich beim Haus gegenüber zwischen die Mülleimerbox und einen Fliederbusch und wartete. Ich sah die Zufahrt, das Haus, die Garage mit einem offenen und einem geschlossenen Tor, in der Garage einen Mercedes stehen und auf der Zufahrt eine Katze in der Sonne liegen. Auf der von der Straße zum Haus abfallenden Wiese wuchsen ein paar kleine Kiefern, und ich plante das Zickzack, in dem ich von Baum zu Baum über die Wiese zum Auto rennen würde. Wenn jemand vorbeikäme, wenn jemand aus dem Haus gegenüber hinuntersähe – ich musste so schnell hinter dem Auto verschwunden sein, dass er sich nicht sicher wäre, mich tatsächlich gesehen zu haben.
Ich hörte Schwinds VW-Bus von weitem; der Auspuff war kaputt. Der Bus fuhr schnell, hustend, knatternd, bog rasant von der Straße auf die Zufahrt, verscheuchte die Katze und bremste abrupt vor dem Eingang. Niemand stieg aus, und nach einer Weile stieß der Bus zurück, machte auf dem Parkplatz einen weiten Bogen, stieß noch mal zurück und stand schließlich so vor dem Eingang, dass er für die Rückfahrt nicht mehr gewendet werden musste. Dann gingen die Türen auf, beide stiegen aus, sie schweigend, er schimpfend, ich hörte „was soll das“und „du und deine Ideen“. Dann ging die Tür auf, und Gundlach begrüßte seine Gäste und bat sie ins Haus.
Jetzt, sagte ich mir. Wen Schwinds lautes Auto ans Fenster geholt hatte, der wandte sich jetzt wieder seiner Beschäftigung zu. Ich rannte über die Straße, versteckte mich hinter der ersten Kiefer, rannte weiter, stolperte, stürzte, kroch hinter die nächste Kiefer, stand auf und rannte, hinkte, hüpfte mit schmerzendem Fuß an den letzten Kiefern vorbei zum VW-Bus. Ich machte die Tür auf, kauerte mich so auf den Sitz, dass ich von außen nicht gesehen werden, allerdings auch nicht nach außen sehen konnte, und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Ich wartete.
Der Fuß tat vom Sturz weh und der Rücken vom Kauern. Aber ich spürte immer noch die Leichtigkeit und die Kraft des Morgens und zweifelte keinen Moment, dass, was ich tat, stimmte. Dann hörte ich die Haustür aufgehen und Schwind schimpfen; der Butler, der ihm half, war ihm nicht schnell und nicht aufmerksam und nicht folgsam genug, und ihm passte nicht, dass er um den Bus herumgehen musste und dass er die Schiebetür nur mit Mühe aufbekam. Aber er bekam sie auf, legte schimpfend das Bild auf die Ladefläche, schob die Tür zu, und während sie scheppernd ins Schloss fiel, drehte ich den Zündschlüssel.
Der Motor sprang sofort an, und als Schwind begriff und schrie und gegen den Bus schlug, fuhr ich schon, und als er losrannte, fuhr ich schon so schnell, dass er noch nach der Beifahrertür greifen und sie aufreißen, aber nicht mehr hineinspringen oder auch nur hineinsehen konnte. Ich sah ihn im Rückspiegel dem Bus hinterherrennen, kleiner und kleiner werden und schließlich stehen bleiben.
Ich fuhr zur Kurve unterhalb von Gundlachs Haus. Nach einer Weile stieg ich aus und ging um den Bus, öffnete und schloss die Schiebetür, schloss auch die Beifahrertür, die ich, nachdem Schwind sie aufgerissen hatte, nicht richtig hatte zuziehen können. Das Bild mochte ich nicht ansehen, ich weiß nicht, warum. Dann stand ich und wartete. Ich sah auf die Mauer, über die Irene kommen wollte; sie war zwei Meter hoch, weiß getüncht mit einer Krone aus roten Ziegeln. Ich sah auf die dichte und hohe Koniferen-Hecke des Nachbarn, die wie eine grüne Mauer an die weiße Mauer anschloss. »11. Fortsetzung folgt