Sein letzter Weg
Es ist ein bewegender Abschied von einem großen Bundeskanzler: Angela Merkel verneigt sich vor Helmut Kohl, Bill Clinton hält eine berührende Rede an einen Freund. Dann bringt ein Schiff den Sarg in die Heimat. Und doch bleiben von diesem Tag auch bittere
Helmut Kohl hätte sich wohl etwas anderes gewünscht. Vielleicht einen Aufmarsch junger Europäer aus den Ländern, für deren heutige Freiheit der verstorbene Bundeskanzler gesorgt hat und deren Aufnahme in die EU ohne ihn undenkbar gewesen wäre. Oder eine Abordnung europäischer Bürger, so wie sie an diesem Samstagmorgen in der Straßburger Innenstadt zum Shoppen unterwegs sind und mit der Währung bezahlen, die ihnen nicht zuletzt Helmut Kohl brachte: den Euro. Einfache Menschen, die sich vom Kanzler der Einheit und dem Ehrenbürger Europas verabschieden, wird es später in Ludwigshafen und Speyer geben. Aber nicht hier, im Herzen Europas, in Straßburg.
Nein, Europa hält nicht den Atem an an diesem Samstag. In diesen zwei Stunden, in denen Weggefährten, politische Freunde und Widersacher Abschied von Helmut Kohl nehmen, verneigt sich nicht die Welt. Aber viele, die die Welt geprägt haben. Einen „europäischen Staatsakt“hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ausgerufen, als er – zusammen mit der Witwe Maike Kohl-Richter – nach einer angemessenen Form der Würdigung für den 87-Jährigen suchte, der am 16. Juni gestorben war. Den ersten Staatsakt in der über 60-jährigen Geschichte dieser europäischen Gemeinschaft. Doch das durfte das Gedenken nicht sein. Also deklarierte man die Veranstaltung zu einem „europäischen Trauerakt“um. Helmut Kohl hätte solche Wortklauberei gehasst – und mit einem Hinweis auf den „Mantel der Geschichte“vom Tisch gewischt. Und es hätte sicher niemand gewagt zu widersprechen.
Die letzte Reise von Helmut Kohl, sie hat früh an diesem Samstag begonnen. Erst am Morgen ist der Sarg von Ludwigshafen nach Straßburg gebracht worden. Hier beginnt der Besuch für alle gleich, egal ob Staats- oder Regierungschef, amtierend oder längst auf dem Altenteil: Einzeln werden sie in ein Protokollzimmer geführt, wo sie sich von Kohl verabschieden können. Eine Europaflagge bedeckt den Sarg. Abgeordnete des Wachbataillons der Bundeswehr halten die Ehrenwache. Nach einem Moment des Schweigens tragen sich die Gäste nebenan in das Kondolenzbuch ein.
Und dann sitzen sie im weiten Rund des Europäischen Parlamentes: Frankreichs früherer Staatspräsident Nicolas Sarkozy neben dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Spaniens pensionierter Monarch König Juan Carlos mit Frau Sofia neben dem österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Der russische Regierungschef Dimitri Med- wedjew und der frühere US-Präsident Bill Clinton neben Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron. Sie verabschieden nicht nur einen Bundeskanzler. „Ich nehme Abschied von einem treuen Freund, der mich über Jahrzehnte liebevoll begleitet hat. Hier spricht nicht der Kommissionspräsident, sondern ein Freund, der Kommissionspräsident wurde“, sagt Jean-Claude Juncker. Maike Kohl-Richter, die mit Sonnenbrille, schwarzem Hut und Schleier in der ersten Reihe sitzt, legt später wie zum Dank ihre Hand kurz auf seinen Arm.
Ratspräsident Donald Tusk stammt aus Polen, einem der Länder, denen Kohl den Weg in die EU ebnete. Er erinnert an Kohls Handschlag in Verdun, eine von vielen Gesten, „die den Grundstein des modernen Europas“legten. Doch es gebe noch viel zu tun, ergänzte der russische Premierminister Dmitri Medwedew. Kohls Traum „einer gemeinsamen Heimstätte“Europas, zu der auch die frühere Sowjetunion gehöre, sei weit entfernt. Die Verantwortung, „dieses Haus weiterzubauen, lastet auf unseren Schultern“.
Viel ist an diesem Vormittag vom Freund, vom deutschen Staatsmann, vom überzeugten Europäer, vom Weltpolitiker die Rede. Aber es spricht wohl niemand so bewegend und zugleich liebevoll vom Menschen Helmut Kohl wie Bill Clinton. Der frühere US-Präsident plaudert, wie Kohl versuchte, ihn zu überreden, „Dinge zu essen, die ich wirklich nicht essen wollte“. Er erinnert an die Fragen, die damals die Alliierten beschäftigten – ob es nach dem Fall der Mauer ein vereintes Deutschland geben soll. Er verweist auf Kohls Leidenschaft, eine Welt zu schaffen, in der die Nationen zusammenarbeiten. „Danke für die Möglichkeit, bei einer Sache mitzumachen, die größer ist als wir selbst“, sagt er. Und dann: „Schlaf gut, mein Freund.“Applaus verschluckt die letzten Worte seiner Rede. Als Clinton an dem Sarg vorbeigeht, salutiert er.
Auch Angela Merkel gelingt eine ihrer besten Reden, ein großer Dank an den Mann, der ihr politischer Ziehvater war. „Ohne Sie stünde ich heute nicht hier“, sagt die Bundeskanzlerin und verspricht, sein Vermächtnis weiterzutragen. Doch sie lässt auch die schwierigen Seiten des Machtmenschen und einstigen Übervaters der CDU nicht aus. Und sie ist die Einzige, die an Kohls 2001 verstorbene erste Ehefrau Hannelore erinnert. Die Kanzlerin geht nach ihrer Ansprache auf Maike Kohl-Richter zu – obwohl die Witwe im Vorfeld erbittert versucht hatte, Merkels Rede zu verhindern. Sie gibt ihr die Hand. Eine Geste, die in der Trauer verbinden soll. Maike Kohl-Richter aber bleibt sitzen.
Und dann ist da die private Unversöhnlichkeit, die an diesem Tag einen Schatten auf alle Schwüre von Freundschaft und Größe wirft. Die Tatsache, dass der politische Brückenbauer Kohl keine Brücke mehr zu seinen Söhnen bauen konnte. ExUS-Präsident Clinton bleibt der Einzige, der alle drei Angehörigen „Maike, Walter und Peter“direkt anspricht. Doch auch er kann die zerstrittene Familie nicht versöhnen. Kohls Söhne und ihre Familien bleiben dem Gedenken in Straßburg fern. Und sie werden auch später bei der Totenmesse im Dom zu Speyer nicht gesehen.
Zu tief, so scheint es, sind die Wunden, zu tragisch die Szenen, die sich in den vergangenen Tagen abgespielt haben: Walter Kohl, der ältere Sohn, der in den Nachrichten vom Tod des eigenen Vaters erfährt, der fünf Tage später zusammen mit seinem Sohn und seiner Nichte vor dem Bungalow in LudwigshafenOggersheim auftaucht – wo ihm der Einlass verwehrt wird. Er habe Hausverbot, berichtet Walter Kohl den wartenden Journalisten. Und er erzählt in einem Interview, wie er sich eine würdige Zeremonie für seinen Vater gewünscht hätte: einen nationalen Staatsakt am Brandenburger Tor, dem Symbol des vereinten Deutschlands, und eine letzte Ruhestätte im Familiengrab in Ludwigshafen, neben Hannelore Kohl. Doch Maike Kohl-Richter hatte andere Pläne.
Bevor der Sarg in Straßburg aus dem Saal getragen, spielt das Orchester erst die deutsche, dann die europäische Hymne, die „Ode an die Freude“. Zuvor hat Kommissionschef Juncker seinem Weggefährten noch eine Bitte mitgegeben: „Lieber Helmut, du bist jetzt im Himmel. Versprich mir, dass du dort nicht sofort einen CDU-Ortsverband gründest. Du hast genug getan für deine Partei, dein Land und für unser gemeinsames Europa.“
Kohls letzter Weg erscheint wie eine Erinnerung an die Stationen seines Lebens. Die Bundesluftwaffe bringt den Sarg mit dem Hubschrauber nach Ludwigshafen. In Kohls Heimatstadt säumen mehrere hundert Menschen die Straßen und Plätze, verfolgen, wie mehrere Limousinen und der dunkle Wagen mit dem Sarg vorbeibrausen. Wie schnell der Trauerzug vorbei ist, überrascht und irritiert so manchen. Am Rheinufer wartet bereits die „MS Mainz“. Viele hochrangige Staatsgäste hat der Altkanzler auf dem Deck des Ausflugsschiffs einst
„Ich habe ihn geliebt“, sagt Bill Clinton „Lieber Helmut, du bist jetzt im Himmel“, sagt Juncker
empfangen, nun bringt es seinen Sarg – inzwischen mit einer deutschen Flagge bedeckt – nach Speyer, ein paar letzte Kilometer flussaufwärts auf dem Rhein, den Kohl so liebte.
„Danke Helmut. Herzlich willkommen zurück in Speyer“, steht in roter Schrift auf einem weißen Leinentuch, das ein Mann an einer Brücke aufgehängt hat. 900 Gäste, darunter zahlreiche Spitzenpolitiker und Weggefährten, sind zum Requiem in der Speyrer Dom geladen, jene Kirche, in der Kohl als Kind Zuflucht vor den Weltkriegsbomben fand und in die er später Präsidenten und Monarchen führte. Karl-Heinz Wiesemann zelebriert die Totenmesse. „Wir nehmen Abschied von einem wahrhaft großen Staatsmann“, sagt der Bischof und drückt sowohl Kohls Witwe als auch dessen Söhnen sein Mitgefühl aus. „Ich denke, er wusste auch um seine Ecken und Kanten, darum, dass er vieles erreicht hatte, aber auch manches zu kurz gekommen ist.“
Als die Teilnehmer aus dem Dom treten, regnet es in Strömen. Die Ehrenformation der Bundeswehr senkt die Fahnen für den Altkanzler. Es ist das letzte Symbol: Genau an dieser Stelle war Kohl 1998 mit einem Großen Zapfenstreich als Regierungschef verabschiedet worden. Nun spielt das Musikkorps den Trauerchoral „Jesus, meine Zuversicht“und das „Lied vom guten Kameraden“. Als das letzte Stück, die deutsche Nationalhymne, verklungen ist, tritt der Sarg nach mehr als zwölf Stunden seine letzte Reise an – zum Friedhof des Domkapitels, wo er im engsten Kreis beigesetzt wird.
Es ist ein Tag, der in die Geschichte eingeht. Der Europäer Helmut Kohl, er ist für immer nach Deutschland heimgekehrt.