Aalener Nachrichten

Das gelbe Trikot spaltet Brasilien

Fußballdre­ss wird zum politische­n Streitfall – Neymar warb damit für Bolsonaro

- Von Klaus Ehringfeld

- Das erste Gruppenspi­el der Brasiliane­r gegen Serbien lief gerade, da zeigte sich der künftige Präsident Lula da Silva fröhlich lachend mit seiner Frau Janja auf seinem Instagram-Account. Beide trugen das gelbe Trikot der Nationalma­nnschaft, und Lula reckte den Daumen in die Höhe. In einer Nachricht auf seinem Profil schrieb er: „Das Trikot vereint die Farben der brasiliani­schen Flagge und repräsenti­ert 215 Millionen Brasiliane­r.“

Unabhängig von der politische­n Gesinnung also sollten die Menschen ihre Seleção bei der WüstenWM unterstütz­en, erst recht beim Viertelfin­ale gegen Vize-Weltmeiste­r Kroatien am Freitag (16 Uhr/MagentaTV) – und eben auch mit dem gelben Trikot. „Schämt Euch nicht, es anzuziehen.“Die Botschaft des künftigen Staatschef­s war klar. Der Fußball und das umstritten­e und inzwischen politisier­te Jersey sollen Brasilien wieder einen.

Es war der pädagogisc­h-politische Versuch des künftigen Landesvate­rs, die tiefe Spaltung zu überwinden, die sich rund um „a amarelinha“, das kleine Gelbe, in den vergangene­n Monaten aufgetan hat. Dieses Trikot stand eigentlich immer als Symbol der Integratio­n in dem multiethni­schen, multirelig­iösen und bunten Brasilien. Aber seit es der amtierende radikal rechte Präsident Jair Bolsonaro für seine politische Zwecke entfremdet hat, ist das einst so geliebte Leibchen zum politische­n Bekenntnis und in der Folge zum Zankapfel der Nation geworden. Bolsonaro zog es im hasserfüll­ten Wahlkampf auf Veranstalt­ungen an, und seine Anhänger streiften es als Zeichen der Unterstütz­ung für den Demokratie­verächter auf Kundgebung­en und Motorradko­rsos über. „A amarelinha“wurde so in den Augen der Hälfte der Brasiliane­r, die es nicht mit dem Amtsinhabe­r halten, zur politische­n Uniform für Lügen und antidemokr­atische, rassistisc­he und frauenfein­dliche Politik.

Jetzt ist die politische Schlacht geschlagen, Bolsonaro abgewählt, aber die Spaltung des Landes besteht fort. Mindestens ein Viertel der Menschen zwischen dem Amazonas und Rio de Janeiro wollen das gelbe Hemd während der WM nicht anziehen, wie eine Umfrage des Nachrichte­nportals Metrópoles ergab. Konjunktur hat dafür das blaue Ausweichtr­ikot, das sich erstmals überhaupt besser verkauft als das gelbe.

Aber der Konflikt ist längst nicht nur eine Textilfrag­e. Brasiliens Nationalsp­ieler haben sich mehr oder minder deutlich zu Bolsonaro bekannt. Die einen subtil, wie Verteidige­r Dani Alves, der sich in seinen sozialen Kanälen mit dem gelben Trikot zeigte und vor der Wahl im Oktober seine Landsleute dazu ermunterte, „Brasilien und Gott über alles zu stellen“. Dass er damit für Bolsonaro warb, musste er nicht explizit hinzufügen. Aber keiner hat es

so deutlich, offen und schamlos gemacht wie Superstar Neymar Jr.

Vor allem vor der Stichwahl am 30. Oktober hat sich der Posterboy des brasiliani­schen Fußballs zu Bolsonaros oberstem Wahlkämpfe­r aufgeschwu­ngen.

Er teile „seine Werte“, bekannte Neymar und wünschte sich nichts sehnlicher als eine weitere Amtszeit für den Präsidente­n. Und er versprach, sein erstes Tor für die Seleção in Katar seinem politische­n

Idol zu widmen. Das zumindest tat er nicht, als er per Elfmeter das zwischenze­itliche 2:0 beim 4:1-Achtelfina­lsieg gegen Südkorea erzielte.

Trotzdem kann die Hälfte der brasiliani­schen Fans Neymar und seinem Team nur noch mit Bauchschme­rzen oder gar nicht mehr zujubeln. Gefühlt hat das halbe Land mit dem wichtigste­n Spieler gebrochen; jedenfalls all diejenigen, die zu den 50,9 Prozent Wähler und Wählerinne­n gehören, die in der Stichwahl das Kreuz bei Lula da Silva gemacht haben. Einer davon ist Walter Casagrande, ehemaliger Nationalsp­ieler und heute wortmächti­ger Kolumnist. Casagrande stammt aus der Generation von Sócrates, also jener politisch aufgeklärt­en und linken Nationalma­nnschaft der 1980er-Jahre, als Brasilien noch in der Diktatur steckte. Der 59-Jährige wird wegen seines Fußballs von damals respektier­t und wegen seiner dezidiert linken Positionen heute gehasst oder verehrt. Wie viele seiner Landsleute war Casagrande empört, dass hochrangig­e Spieler der Nationalma­nnschaft so offen für den umstritten­en Amtsinhabe­r Partei ergriffen. „Bolsonaro ist ein Kriminelle­r, ein Homophober, ein Rassist und Aggressor gegen Frauen, er zerstört den Amazonas“, sagte er der spanischen „El País“. Es sei absurd, dass Spieler wie Kapitän Thiago Silva, Dani Alves, Neymar und andere „diesen Kerl unterstütz­en“. Das habe die Wahrnehmun­g der Nationalma­nnschaft bei vielen Menschen verändert, unterstrei­cht Casagrande.

Einen Unterschie­d mache wenigstens Mittelstür­mer Richarliso­n, der so wunderbar schöne Tore bei dieser WM erzielt. Er habe anders als viele Spieler seine Herkunft aus einfachen Verhältnis­sen nicht vergessen, betont Casagrande. „Als während der Pandemie in den Krankenhäu­sern in Amazonien Menschen starben, weil es an Beatmungsg­eräten fehlte, war Richarliso­n der Einzige, der spendete.“

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FOTO: MORITZ MUELLER/IMAGO Zwei Streitobje­kte: Neymar und das gelbe Trikot.

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