Das gelbe Trikot spaltet Brasilien
Fußballdress wird zum politischen Streitfall – Neymar warb damit für Bolsonaro
- Das erste Gruppenspiel der Brasilianer gegen Serbien lief gerade, da zeigte sich der künftige Präsident Lula da Silva fröhlich lachend mit seiner Frau Janja auf seinem Instagram-Account. Beide trugen das gelbe Trikot der Nationalmannschaft, und Lula reckte den Daumen in die Höhe. In einer Nachricht auf seinem Profil schrieb er: „Das Trikot vereint die Farben der brasilianischen Flagge und repräsentiert 215 Millionen Brasilianer.“
Unabhängig von der politischen Gesinnung also sollten die Menschen ihre Seleção bei der WüstenWM unterstützen, erst recht beim Viertelfinale gegen Vize-Weltmeister Kroatien am Freitag (16 Uhr/MagentaTV) – und eben auch mit dem gelben Trikot. „Schämt Euch nicht, es anzuziehen.“Die Botschaft des künftigen Staatschefs war klar. Der Fußball und das umstrittene und inzwischen politisierte Jersey sollen Brasilien wieder einen.
Es war der pädagogisch-politische Versuch des künftigen Landesvaters, die tiefe Spaltung zu überwinden, die sich rund um „a amarelinha“, das kleine Gelbe, in den vergangenen Monaten aufgetan hat. Dieses Trikot stand eigentlich immer als Symbol der Integration in dem multiethnischen, multireligiösen und bunten Brasilien. Aber seit es der amtierende radikal rechte Präsident Jair Bolsonaro für seine politische Zwecke entfremdet hat, ist das einst so geliebte Leibchen zum politischen Bekenntnis und in der Folge zum Zankapfel der Nation geworden. Bolsonaro zog es im hasserfüllten Wahlkampf auf Veranstaltungen an, und seine Anhänger streiften es als Zeichen der Unterstützung für den Demokratieverächter auf Kundgebungen und Motorradkorsos über. „A amarelinha“wurde so in den Augen der Hälfte der Brasilianer, die es nicht mit dem Amtsinhaber halten, zur politischen Uniform für Lügen und antidemokratische, rassistische und frauenfeindliche Politik.
Jetzt ist die politische Schlacht geschlagen, Bolsonaro abgewählt, aber die Spaltung des Landes besteht fort. Mindestens ein Viertel der Menschen zwischen dem Amazonas und Rio de Janeiro wollen das gelbe Hemd während der WM nicht anziehen, wie eine Umfrage des Nachrichtenportals Metrópoles ergab. Konjunktur hat dafür das blaue Ausweichtrikot, das sich erstmals überhaupt besser verkauft als das gelbe.
Aber der Konflikt ist längst nicht nur eine Textilfrage. Brasiliens Nationalspieler haben sich mehr oder minder deutlich zu Bolsonaro bekannt. Die einen subtil, wie Verteidiger Dani Alves, der sich in seinen sozialen Kanälen mit dem gelben Trikot zeigte und vor der Wahl im Oktober seine Landsleute dazu ermunterte, „Brasilien und Gott über alles zu stellen“. Dass er damit für Bolsonaro warb, musste er nicht explizit hinzufügen. Aber keiner hat es
so deutlich, offen und schamlos gemacht wie Superstar Neymar Jr.
Vor allem vor der Stichwahl am 30. Oktober hat sich der Posterboy des brasilianischen Fußballs zu Bolsonaros oberstem Wahlkämpfer aufgeschwungen.
Er teile „seine Werte“, bekannte Neymar und wünschte sich nichts sehnlicher als eine weitere Amtszeit für den Präsidenten. Und er versprach, sein erstes Tor für die Seleção in Katar seinem politischen
Idol zu widmen. Das zumindest tat er nicht, als er per Elfmeter das zwischenzeitliche 2:0 beim 4:1-Achtelfinalsieg gegen Südkorea erzielte.
Trotzdem kann die Hälfte der brasilianischen Fans Neymar und seinem Team nur noch mit Bauchschmerzen oder gar nicht mehr zujubeln. Gefühlt hat das halbe Land mit dem wichtigsten Spieler gebrochen; jedenfalls all diejenigen, die zu den 50,9 Prozent Wähler und Wählerinnen gehören, die in der Stichwahl das Kreuz bei Lula da Silva gemacht haben. Einer davon ist Walter Casagrande, ehemaliger Nationalspieler und heute wortmächtiger Kolumnist. Casagrande stammt aus der Generation von Sócrates, also jener politisch aufgeklärten und linken Nationalmannschaft der 1980er-Jahre, als Brasilien noch in der Diktatur steckte. Der 59-Jährige wird wegen seines Fußballs von damals respektiert und wegen seiner dezidiert linken Positionen heute gehasst oder verehrt. Wie viele seiner Landsleute war Casagrande empört, dass hochrangige Spieler der Nationalmannschaft so offen für den umstrittenen Amtsinhaber Partei ergriffen. „Bolsonaro ist ein Krimineller, ein Homophober, ein Rassist und Aggressor gegen Frauen, er zerstört den Amazonas“, sagte er der spanischen „El País“. Es sei absurd, dass Spieler wie Kapitän Thiago Silva, Dani Alves, Neymar und andere „diesen Kerl unterstützen“. Das habe die Wahrnehmung der Nationalmannschaft bei vielen Menschen verändert, unterstreicht Casagrande.
Einen Unterschied mache wenigstens Mittelstürmer Richarlison, der so wunderbar schöne Tore bei dieser WM erzielt. Er habe anders als viele Spieler seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen nicht vergessen, betont Casagrande. „Als während der Pandemie in den Krankenhäusern in Amazonien Menschen starben, weil es an Beatmungsgeräten fehlte, war Richarlison der Einzige, der spendete.“