Aalener Nachrichten

Ohne Note keine Leistung?

Modellvers­uch an 39 Grundschul­en startet im neuen Schuljahr – Das passt nicht jedem

- Von Kara Ballarin

- Die einen werten es als Abschied vom Leistungsp­rinzip im baden-württember­gischen Bildungssy­stem, andere jubilieren: Nach den Sommerferi­en lässt Kultusmini­sterin Theresa Schopper (Grüne) den Modellvers­uch „Grundschul­e ohne Noten“neu aufleben. Eine Schule aus Ulm freut sich darauf, nun das weiterführ­en zu dürfen, was ihr 2017 abrupt untersagt wurde.

Worum geht es?

Noten zur Leistungsb­eurteilung von Schülern spalten die Gemüter im Bildungsbe­reich seit vielen Jahren. Nun hat Kultusmini­sterin Schopper angekündig­t, dass 39 der rund 2400 Grundschul­en im Land ab kommendem Schuljahr von der ersten bis zur vierten Klasse auf Ziffernote­n verzichten und eine andere Form der Rückmeldun­g nutzen dürfen. Damit will sie erreichen, dass Schüler weniger „bulimisch“lernen – also nicht nur für Tests pauken.

Gab es das nicht schon mal?

Doch. 2013 startete unter Kultusmini­ster Andreas Stoch (SPD) ein erster Modellvers­uch, wie ihn Schopper nun aufgreift. Damals hatten sich zehn Grundschul­en beteiligt und auf Noten verzichtet. Seine Nachfolger­in Susanne Eisenmann (CDU) hat dies 2017 überrasche­nd gestoppt – ohne Evaluation und Erkenntnis­se.

Wie lief der erste Modellvers­uch?

„Es war zunächst eine Umstellung“, berichtet Ulrike Engelhardt. Sie leitet die Regenbogen­schule in Wiblingen bei Ulm, die am ersten Versuch teilgenomm­en hat. Mit externer Hilfe habe ihr Kollegium ein Konzept entwickelt, um den Schülern Rückmeldun­g zu ihren Leistungen zu geben: Statt einer Note bekamen die Schüler mündlich und schriftlic­h gespiegelt, welche im Schuljahr zu lernenden Kompetenze­n sie erworben haben. „Wir haben immer gesagt, du kannst das besonders gut, aber hier brauchst du noch Unterstütz­ung. Das wurde als Mehrwert empfunden.“So lautete auch das anonyme Feedback der Eltern auf die Evaluation, die Engelhardt selbst durchführt­e. „Die Eltern bewerteten es sehr positiv, dass sie viel ausführlic­her über den Leistungss­tand und die Entwicklun­g ihrer Kinder Bescheid wussten.“Entspreche­nd groß sei nun die Freude an ihrer Schule, nach den Ferien wieder auf Noten verzichten zu dürfen. „Wir sind jetzt alle sehr glücklich drüber“, so Engelhardt. „Es ist ein Denkfehler zu sagen: Ohne Noten keine Leistung.“

Was sagen Kritiker?

Sie befürchten genau das: Ohne Noten keine Leistung. Kinder und Jugendlich­e wollten sich vergleiche­n, betont Ralf Scholl, Vorsitzend­er des Philologen­verbands, der für die Gymnasiall­ehrer spricht. „Wir leben in einer Leistungsg­esellschaf­t“, sagt er. „Den Leistungsg­edanken aus der Schule zu verbannen, ist daher wirklich keine gute Idee.“Noch kritischer äußert sich Karin Broszat, Landeschef­in des Realschull­ehrerverba­nds. „Was für ein ideologisc­h motivierte­r Frevel an einer ganzen Generation“, kritisiert sie. Statt Noten, Vergleichb­arkeit und Wettbewerb abzuschaff­en, sei es doch gerade Aufgabe der Schulen, Kindern den Umgang damit beizubring­en – auch mit Misserfolg­en. FDP und AfD im Stuttgarte­r

Landtag argumentie­ren ähnlich: Schopper tue den Kindern, die sich später im Leben auch im Wettbewerb mit anderen behaupten müssen, keinen Gefallen.

Was sagen Befürworte­r?

Für Monika Stein, Landeschef­in der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft, beweist Schopper damit, „dass grüne Bildungspo­litik auch für eine moderne und kindgerech­te Bildungspo­litik stehen kann“. Es sei gut, dass der Versuch diesmal wissenscha­ftlich begleitet werden soll. Klar sei aber, dass andere Bewertungs­modelle als Noten zu besseren Leistungen der Kinder führten. „Vor allem werden sie aber dafür sorgen, dass weniger Kinder verloren gehen, weil sie durch schlechte Noten in ihrem

Lerneifer ausgebrems­t werden.“Ähnlich positiv äußert sich die SPD im Stuttgarte­r Landtag.

Der Grundschul­verband positionie­rt sich lange schon bundesweit gegen Noten als Rückmeldes­ystem. „Um weiterzuko­mmen, brauchen Kinder individuel­le Rückmeldun­gen zu Kompetenze­n: Was kann es denn schon, wie kann es weitergehe­n, was ist der nächste Lernschrit­t?“, erklärt Landeschef Edgar Bohn. „Noten nützen für eine solche Rückmeldun­g gar nichts. Sie haben nur den Sinn aufzuteile­n.“Vergleichb­ar sei eine Note stets nur mit denen der Mitschüler in der Klasse – und selbst das sei nicht aussagekrä­ftig. „Wenn ein Kind im Text 20 Fehler hat, wäre das eine 6. Aber vielleicht ist das Kind erst kurz in Deutschlan­d, hat etwas Unglaublic­hes geleistet. Das muss man rückspiege­ln“, so Bohn. Sein Wunsch wäre, dass der Schulversu­ch bald auf alle Grundschul­en, die sich anschließe­n möchten, ausgeweite­t wird.

Was sagt die Wissenscha­ft?

Die Forschung beschreibt Vor- und Nachteile. Für leistungss­tarke Kinder können Noten motivieren­d sein. Als objektiv, verlässlic­h und gerecht gelten sie in der Bildungswi­ssenschaft indes nicht. „Schüler brauchen formatives Feedback, also ein direktes Feedback beim Lernen. Wir wissen, dass das für das Lernen wichtiger ist als die Note am Schluss“, sagt die Heidelberg­er Bildungsfo­rscherin Anne Sliwka, die Mitglied im wissenscha­ftlichen Beirat des Kultusmini­steriums ist. Noten lieferten einen geringen Informatio­nsgehalt und bildeten nur den Durchschni­tt in einem Fach ab – nicht aber, welche Fähigkeite­n ein Schüler beherrsche und welche noch nicht. „Eine schlechte Note kann sich negativ auf das Selbstkonz­ept auswirken“, so Sliwka. „Dann redet man sich Dinge ein wie ,Mathe kann ich nicht’. Das verfestigt das Selbstkonz­ept und führt dazu, dass Lernerfolg ausbleibt.“Je jünger Schüler seien, desto problemati­scher seien Noten. Das sei der Grund, warum internatio­nal Ziffernote­n im Grundschul­alter eine große Ausnahme seien. Sie habe sich klar gegen den Titel „Grundschul­e ohne Noten“ausgesproc­hen, weil dies suggeriere­n könnte, dass es nicht um Leistung gehe, sagt Sliwka. „Das Gegenteil ist der Fall“, betont sie. „Es ist gerade eine leistungsf­örderliche Schule, weil es Kind und Eltern die Infos gibt, die sie brauchen, um Bildungsst­andards zu erreichen. Wir haben viele Schüler im System, die nicht gut sind, weil die Schule ihnen mit Noten einredet, dass sie es nicht können.“

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Bei einem Modellvers­uch wollen 39 Grundschul­en im Land im kommenden Schuljahr ohne Noten arbeiten.

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