Das Leben in ganz neuem Licht
Eine Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis – Nicht nur für Mutter und Kind, manchmal verändert sie auch das Leben eines völlig Unbeteiligten
Frank spürte, wie der Schweißtropfen anfing, sich zu bewegen. Weg vom Haaransatz, langsam in Richtung der linken Stirnseite, manchmal gestoppt von einer Rille in der Haut, aber doch unerbittlich nach unten. „Bitte nicht ins Auge“, dachte Frank, denn er würde diesen und die nachfolgenden Schweißtropfen jetzt nicht abwischen können. Beide Arme waren angespannt, die Hände, gehüllt in eierschalenfarbene OPHandschuhe, drückten auf den Körper hinter dem grünen Tuch. Und Frank hörte die Stimme des Arztes: „Jetzt nicht nachlassen, gut so, wir haben es gleich geschafft.“
Frank lenkte sich ab vom Gedanken an den Schweiß. Erinnerte sich, wie vor einer halben Stunde das Telefon im Nachtdienstzimmer der Chirurgie des Kreiskrankenhauses geklingelt hatte. Er vermutete einen Unfall, Knochenbrüche vielleicht oder ein entzündeter Appendix. Aber da war eine für ihn fremde Stimme dran, die ihn bat, „bitte in die Gyn“zu kommen, in den Kreißsaal. „Wir brauchen Sie, wir haben ein Problem bei einem Kaiserschnitt.“
Frank, 21 Jahre alt und Sanitätsobergefreiter, hat noch nie auf der Gynäkologie gearbeitet und kannte Fachbegriffe wie „Sectio“oder „Wehenbeschleuniger“nur aus dem Krankenpflegeunterricht. Er schlüpfte in seine Clogs, schlappte zum Aufzug, fuhr in den zweiten Stock und folgte der Beschilderung, bis er das fahlweiße, grelle Licht sah. „Oh, schön, dass Sie da sind, bitte in den Kittel, Handschuhe, Mundschutz. Stellen Sie sich bitte links hinten an den Tisch. Der Arzt wird ihnen sagen, was Sie tun sollen.“
Es roch anders hier als in den Operationssälen, die Frank bisher kannte. Ein bisschen süßlich, nach Schweiß vielleicht. „Sie müssen jetzt mit beiden Händen an der linken Bauchseite nach oben drücken, damit wir das Kind herausbekommen. Wir können nicht ziehen, die Nabelschnur hängt um den Hals.“Die Stimme des Arztes klang wie die eines Flugkapitäns, der den Passagieren die Route erklärt, aber einen Hauch angestrengter, so, als ob es vielleicht mit dem Fahrwerk ein kleines Problem beim Landen geben könnte.
Frank drückte, versteckt hinter dem OP-Tuch. Er drückte mit beiden Händen, hörte wie aus der Ferne Begriffe wie Beinlage, Nabelschnur, Herztöne, Tupfer, Klammer, Sauger und ahnte, was sein Job hier war: Er war Mensch gewordene Wehen, eine Ersatzwehe quasi, nur anders herum, weil das Kindchen nicht unten, sondern weiter oben die Mutter verlassen soll. Spannend, aber es war nicht ganz das, was er sich einst für sein Leben vorgestellt hatte. Was er damals im Kreißsaal des Krankenhauses Kempten nicht ahnte: dass trotzdem diese halbe Stunde seinem Leben eine entscheidende Wendung geben sollte.
Wenn Frank viele Jahre später von dieser halben Stunde erzählte und dem Leben davor, benutzte er gerne Theodor Fontanes berühmten Romantitel „Irrungen, Wirrungen“.
In dieser halben Stunde im Kreißsaal, dachte Frank, während der Schweiß die Augen erreichte, an diese Irrungen, Wirrungen. Daran, wie er mitten in der zwölften Klasse aus dem Gymnasium flüchtete wegen einer hoffnungslos unglücklichen Liebe und eines ebenso hoffnungslosen Sechsers in Griechisch. Wie er als Keyboarder mit der Tanzmusik-Combo „The Generals“in einem Baseler Stripteaselokal lernte, dass eine Tänzerin schon mal ein Zündholz in ihrem Schritt entflammen kann. Vor allem aber lernte er, dass ein Jahr Mucke genug ist für einen nicht mal Zwanzigjährigen und verabschiedete sich mit einem veritablen Nervenzusammenbruch von diesem Genre.
Während der Operateur Zuversicht verbreitete („Das sieht schon besser aus, bitte weiterdrücken!“), erinnerte sich Frank während ein bisschen Blut unter der grünen Abdeckung floss, an die Aufnahmeprüfung am Konservatorium und an den ersten Satz von Bachs „Italienischem Konzert“. Musiklehrer wäre ja gegangen ohne Abitur. Doch die Bundeswehr holte ihn noch vor Abschluss des dritten Semesters. Während der Grundausbildung warb man für die Verpflichtung als Zeitsoldat, mit imposanter Prämie und der Chance, zum Beispiel bei einer sechsjährigen Verpflichtung Hubschrauberpilot zu werden. Das Leben dann als angehender Hubschrauberpilot im niedersächsischen Bückeburg war jedenfalls ein großer Spaß.
Bis zu dem Tag, an dem Frank im Rahmen der Inneren Führung einen Vortrag halten sollte über, wie es damals noch hieß, „Kriegsdienstverweigerung“. Man dachte wohl, dieses findige Bürschlein aus Bayern würde schon ein paar gewichtige Argumente für seine Berufswahl finden.
Es kam anders: Drei Tage vor der Abreise nach Amerika zur endgültigen Pilotenausbildung marschierte Frank zu seinem General, um diesen um Dispens zu bitten, weil er sich nach dem Vortrag entschlossen habe, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Und ein solcher sei eben auch der Job eines Hubschrauberpiloten im Dienste des deutschen Heeres. So landete Frank im Bundeswehrkrankenhaus von Kempten, lernte Oberschenkel zu gipsen, bei Mandeloperationen zu assistieren und einen 24 Jahre alten Bomberpiloten beim Sterben am Krebs zu pflegen.
Man schrieb das Jahr 1972. Frank hatte nur noch ein paar Monate bis zum Ende der (jetzt nur noch) zweijährigen Dienstzeit. Weil damals fast jegliches zivile medizinisches Personal nach München zu den Olympischen Spielen abgeordnet worden war, befahl man Frank als Pfleger für den Ambulanz- und OP-Bereich ins ortseigene Kreiskrankenhaus. Was durchaus Freude machte, denn er durfte nun zeigen, was er konnte. Auch wenn die Barmherzigen Schwestern in ihrem strengen Regiment vom Aushilfspfleger Frank eine ähnlich zeitintensive Dienstauffassung verlangten wie sie sie selbst als dem lieben Gott verpflichtete Kraft pflegten.
Deshalb die Nachtdienste, die Wochenenddienste. Und jetzt der
Job als Wehenersatz. Doch der hat sich gelohnt. Ein markerschütterndes Krähen riss Frank aus seinen Erinnerungen. Es ist ein Mädchen. „Danke an alle“, sagte der Operateur nach diesem Kaiserschnitt mit all seinen Komplikationen. „Sie können jetzt bitte zumachen.“Die Assistenzärztin machte sich daran.
Frank streckte sich und nahm erstmals dieses funktional kalte, und doch jetzt, nach dem erfolgreichen Eingriff, irgendwie mit einer gewissen Fröhlichkeit aufgeladene OP-Saal-Ambiente wahr. Er sah, wie die Hebamme das kleine Menschlein in ein neues Tuch wickelte, es fiel ihm die lange Nabelschnur auf, an deren Ende eine riesige Klemme hing. Dann wurde die Mutter – er kannte weder ihren Namen, noch sollte er sie je wiedersehen – auf die Transportliege gehoben und in Richtung Wachraum geschoben. Die OP-Schwester sammelte die Instrumente ein, eine andere die teils blutigen Tücher. Es herrschte nun Alltag mitten in der Nacht. Frank ging, immer noch ein bisschen wie in Trance, durch die Tür in den Vorraum, um sich Hände und Arme zu waschen. Neben ihm der Operateur, plaudernd mit den Kollegen. Da war nichts mehr von Komplikationen zu hören, die noch vor einer halben Stunde das Leben eines Menschleins beenden hätten können. Er habe, erzählte der Arzt, Karten für die Eröffnung der Olympischen Spiele, dass er sich darauf freue und dass er morgen dienstfrei habe und solche Sachen. Frank sah er nicht an.
Er kannte das ja von seinem „normalen“Arbeitsleben im anderen Krankenhaus. Diese abrupte Abgrenzung von der großen Anstrengung. Doch jetzt, hier, die Nabelschnur noch vor Augen, den Schrei des Neugeborenen noch im Ohr, mochte ihm solch professionelles Abschalten nicht gelingen. Aber er fand niemanden, mit dem er darüber hätte reden können.
Frank lag in seinem Dienstzimmer im vierten Stock des Kreiskrankenhauses lange wach, obwohl er todmüde war. Die Augen brannten noch. Die Gedanken sausten hin und her vom hellen Licht der OPLampen zum Knoten in der Nabelschnur. Er hatte geholfen, ein Kind in die Welt zu bringen. Keine Irrung, keine Wirrung: Er hatte etwas sehr Sinnvolles getan. Ja, das könnte ihm gefallen, ein Leben im Krankenhaus. Ein Leben dafür, Leben zum Bleiben zu bewegen. So gut es eben geht.
P.S. Nach dem Ende seiner Dienstzeit bei der Bundeswehr fand Frank eine Anstellung auf der chirurgischen Station eines Münchner Kreiskrankenhauses. Nach ein paar Jahren wechselte er den Beruf und wurde Journalist – mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik. Und jedes Mal, wenn er ein Krankenhaus betritt, kommt ihm jene Nacht in den Sinn, als er half, einen Menschen auf die Welt zu bringen.
Diese Geschichte ist tatsächlich so passiert. und die beteiligten Personen sind nicht erfunden. Einzig Franks Name entspricht nicht der Wahrheit.