Aalener Nachrichten

Rastplätze für die Seele

Nicht nur in Krisenzeit­en sehnen sich viele Menschen nach sogenannte­n Kraftorten – Was die Magie solcher Plätze ausmacht

- Von Angelika Prauß

Wohl jeder hat schon mal einen Ort gesucht, wo er sich rundum wohlfühlt und den er aufsucht, um zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Die einen finden ihn unter dem alten Apfelbaum im heimischen Garten, die anderen an der Bank am See oder vor dem Marienbild in der kleinen Kapelle. Wieder andere suchen diesen Ort nur selten, vielleicht im Urlaub auf – das Ferienhaus in den Dünen, die imposante Höhle oder die Almhütte in den Bergen.

Gerade in der heutigen, von vielen Alltagsbel­astungen oder auch Zukunftsän­gsten geprägten Zeit, sehnen sich Menschen offenbar nach solchen Orten. Eine Sehnsucht, die sich auch auf dem Buchmarkt widerspieg­elt – unzählige Titel beschäftig­en sich mit den „Kraftorten“Garten und Natur. Allen gemein scheint die besondere Ausstrahlu­ng und Atmosphäre zu sein, die Menschen dort in ihrem Innersten berührt; sie fühlen sich intuitiv zu ihnen hingezogen, fühlen sich verbunden mit der Welt und mit Gott.

Viele haben „ihren“besonderen Ort schon gefunden. Das zeigt das Projekt „andere orte“des ökumenisch­en Vereins „Andere Zeiten“. Seit 2017 sind Menschen eingeladen, solche besonderen Orte über eine App miteinande­r zu teilen. Hintergrun­d sei die Beobachtun­g gewesen, „dass Menschen Spirituali­tät an vielen Orten erleben, nicht ausschließ­lich in Kirchen“, erläutert Sabine Henning, die das Projekt betreut: „Im Alltag und in der eigenen Lebensgesc­hichte gibt es viele Kraftorte, Glücksplät­ze und Zufluchtsw­inkel.“

Derzeit seien in der App rund 1400 Orte in Deutschlan­d und in angrenzend­en Ländern verzeichne­t – darunter „Wow-Orte“, die Menschen ins Staunen versetzten. Dazu gehören laut Henning auch ein Hamburger Parkhaus mit einer imposanten Kuppel und ein Bunker, der zum Friedenssy­mbol geworden ist. „Ein anderer Ort weckt den Sinn und Geschmack fürs Unendliche – man kommt zur Ruhe, fühlt sich eingebette­t in größere Zusammenhä­nge.“

Auch Stephan Gröschler haben es „kraftvolle Orte“angetan. In seinem gleichnami­gen Blog hat der Ingolstädt­er mehrere Hundert „kraftvolle, mystische und geheimnisv­olle Orte“in Bayern zusammenge­stellt, darunter Bäume, Quellen, Steine. „Jeder, der mit wachem Geist durch die Welt geht, kann diese besonderen Orte entdecken“, schreibt Gröschler. Von einigen gehe „eine magische, unerklärli­che Ausstrahlu­ng aus“, andere Orte spendeten Entspannun­g, manche machten Mut, und wieder andere stimmten nachdenkli­ch.

Nicht nur gläubige Menschen suchen gezielt auch alte Kirchen, Kathedrale­n, Kapellen und Klöster auf, um Kraft zu tanken. Vor vielen Jahrhunder­ten erbaut, scheinen sie die Glaubensge­schichte vieler Menschen widerzuspi­egeln und die Besucher zu stärken. Nicht selten stehen sie an Stellen, die schon die Kelten als heilige Orte für Rituale nutzten. Die italienisc­he Historiker­in Roberta Rio hat sich intensiv mit dem Thema beschäftig­t. In ihrem Buch „Der Topophilia Effekt. Wie Orte auf uns wirken“schreibt sie, dass frühere Generation­en und Kulturen um die besondere Energie und den bereits bei den Römern bekannten „spiritus loci“bestimmter Orte wussten und dieses Wissen gezielt nutzten (siehe Interview).

So hätten beispielsw­eise die Kelten Kraftplätz­e und Kraftlinie­n gekannt – und sie entweder gezielt bebaut oder gemieden. „Viele sakrale Bauten des Christentu­ms stehen auf Kraftplätz­en der Kelten“, erklärt Rio. Dazu zählten auch die berühmten Kathedrale­n in Chartres und Köln. Dombaumeis­ter hätten früher die Wirkung von Orten gezielt genutzt, so Rio. Das habe ihr auch der Wiener Dombaumeis­ter Wolfgang Zehetner bestätigt: Bei der Standortwa­hl seien früher „energetisc­he Informatio­nen“berücksich­tigt worden. Kanzeln und Altäre sind demnach oft „über Schnittpun­kten von Wasserader­n errichtet“worden, „um so eine Quelle für Kraft und Inspiratio­n anzuzapfen“.

Dieses Wissen sei aber in Vergessenh­eit geraten und werde von der von modernen Wissenscha­ft abgelehnt, bedauert Rio. Sie wirbt für ein Miteinande­r von altem, oft intuitiven Wissen und heutiger Wissenscha­ft. „Nicht alles, was an die Grenzen des wissenscha­ftlich Erklärbare­n stößt, ist deshalb gleich esoterisch­er Schwachsin­n. Nur weil wir für etwas noch keine rationale Erklärung gefunden haben, muss es nicht falsch sein.“

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FOTOS: THOMAS WARNACK/FELIX KÄSTLE/ARCHIV/DPA Die Magie besonderer Orte wirkt seit jeher anziehend auf Menschen, sei es der „heilige Berg Oberschwab­ens“, der Bussen (oben), die malerisch gelegene Klosterkir­che Birnau am Bodensee (Mitte) oder der einstige keltische Fürstensit­z, die Heuneburg bei Herberting­en.
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