Aalener Nachrichten

Die Frau der Widersprüc­he

Alice Weidel kämpft als Spitzenkan­didatin der AfD um Wählerstim­men – Ihr Wahlkreis liegt am Bodensee

- Von Claudia Kling

SCHWERIN/BERLIN - Es wirkt fast so, als wolle sich Alice Weidel für etwas entschuldi­gen. Sie appelliert an das Publikum, Verständni­s aufzubring­en für Menschen wie sie, die sowohl einen Beruf als auch eine Familie haben. Sie freue sich auf den Wahlkampf, sagt die AfD-Spitzenkan­didatin in Schwerin, der Landeshaup­tstadt von Mecklenbur­g-Vorpommern. Doch gleichzeit­ig betrübe sie der Gedanke, nicht genug für ihre Kinder da zu sein. „Es ist ein Drahtseila­kt“, sagt die 42-Jährige.

Dann dankt sie ihrer Familie, „ohne die ich das nicht schaffen würde“, ihrer Partnerin, mit der sie zwei Söhne großzieht, und auch dem Publikum, das für sie auch wie eine Familie sei. Doch der Moment der demonstrat­iven Emotionali­tät verfängt nicht so richtig. Das Publikum reagiert eher ungerührt, mit wenig Beifall, auf die überrasche­nde Offenheit der AfD-Fraktionsc­hefin im Hinblick auf ihr Privatlebe­n. Vielleicht, weil sich AfD-Anhänger unter Familie eine Konstellat­ion vorstellen, wie sie das Schild vor der Wahlkampfb­ühne beschreibt: „Liebe. Mutter, Vater, Kinder“, ist darauf zu lesen.

Zu einer Zeit, als die beiden Bundesvors­itzenden der AfD Jörg Meuthen und Frauke Petry hießen, haben sich viele Beobachter der Partei gefragt, ob eine Frau wie Alice Weidel tatsächlic­h in dieser Partei, die in ihrem Wahlprogra­mm die Werte einer vergangene­n Zeit beschwört, Karriere machen kann. Doch während Petry sozusagen das Schicksal des Parteigrün­ders Bernd Lucke ereilte – Austritt aus der AfD, Verschwind­en in der politische­n Bedeutungs­losigkeit –, festigte Weidel ihre Machtbasis. Seit September 2017 ist sie Fraktionsc­hefin der AfD im Bundestag, seit November 2019 stellvertr­etende AfDBundess­precherin und seit Februar 2020 Vorsitzend­e des Landesverb­andes Baden-Württember­g. Und nun erneut Spitzenkan­didatin für eine Bundestags­wahl.

Weidels Wahlkreis liegt trotz verschiede­ner Wohnsitze immer noch am Bodensee. Mit ihrer Familie lebt sie allerdings in der Region Einsiedeln im Schweizer Kanton Schwyz, und als Bundestags­abgeordnet­e und AfD-Fraktionsc­hefin in Berlin. Ihr Verhältnis zum AfD-Bundeschef Jörg Meuthen, der ebenfalls aus Baden-Württember­g kommt, ist kein Gutes und hat sich im Zuge des parteiinte­rnen Streits über den Umgang mit Rechtsauße­n-Mitglieder­n weiter verschlech­tert. Meuthen befürworte­te einen härteren Kurs als Weidel.

Die Zusammenar­beit mit ihrem CoFraktion­svorsitzen­den im Bundestag, dem 80-jährigen Alexander Gauland, scheint hingegen zu funktionie­ren. „Alexander Gauland und ich ergänzen uns sehr gut“, sagte Weidel in einem Interview der Schweizer „Weltwoche“im September 2019.

Dass Gauland, der als geschickte­r Strippenzi­eher in der AfD gilt, Weidel neben sich Raum gibt, lässt sich so erklären: Ihre relative Jugend, ihr apartes Äußeres, ihr berufliche­r Werdegang, ihre Auslandser­fahrung und die Lebenspart­nerschaft mit einer Frau kommen der AfD durchaus zupass, um dem Vorwurf, nur reaktionär­e und ultrakonse­rvative Positionen

zu vertreten, entgegenzu­treten. In Fragen der Migrations- und Integratio­nspolitik spricht Weidel allerdings selbst die Sprache des rechten Rands, wenn sie mit Äußerungen über „Burkas, Kopftuchmä­dchen und alimentier­te Messermänn­er und sonstige Taugenicht­se“provoziert. Das sind die Aussagen, mit denen sie auch das Stammklien­tel der AfD erreicht. Beim Wahlkampfa­uftakt in Schwerin fordert sie, Syrer wieder in ihre Heimat zurückzusc­hicken, „wo sie dringend gebraucht werden“. Dafür gibt es mehr Beifall als für ihr Bekenntnis des frühzeitig­en Wunsches, eine eigene Familie haben zu wollen, in dem Wissen, „dass es für mich nicht einfach werden würde“. Doch so ein richtiges Knallerthe­ma fehlt der AfD in einer Zeit, in der vor allem über den Klimawande­l und die Bewältigun­g der Corona-Pandemie gesprochen wird.

Die Frage, ob die promoviert­e Ökonomin Weidel einfach eine Partei gesucht hat, die jung genug ist, um ihr einen raschen Aufstieg zu ermögliche­n, oder ob sie tatsächlic­h überzeugt am rechten

Rand des Parteiensp­ektrums steht, haben sich viele gestellt. Denn in ihrer

Vita wirkt einiges widersprüc­hlich: Einerseits redet Weidel abfällig über Asylbewerb­er und Migranten, die in Deutschlan­d das Sozialsyst­em ausnutzten, anderersei­ts hat ihre Lebenspart­nerin selbst einen Migrations­hintergrun­d – sie wurde in Sri Lanka geboren und in der Schweiz adoptiert. Einerseits plädiert Weidel für geschlosse­ne Grenzen und warnt vor Männern muslimisch­en Glaubens, die das Leben in Deutschlan­d unsicherer machten, anderersei­ts beklagte sie im „Weltwoche“-Interview, dass sich ihr großer Freundeskr­eis, „aus einem eher linksliber­alen Milieu“, zunehmend von ihr und ihrer Partnerin abgewandt habe.

In Schwerin gibt sich Weidel alle Mühe, wählernah zu sein. Geduldig lächelt sie in Kameras, schüttelt Hände, alles auf Zentimeter­abstand. Das ist natürlich auch ein Statement gegen die Corona-Politik der Bundesregi­erung, die sie seit Monaten heftig kritisiert. Gleichzeit­ig wirbt sie so für die AfD als Partei der Impfgegner, wenn sie sich – als bekennend Ungeimpfte – von jedem in den Arm nehmen lässt, der gerne ein Handy-Foto mit ihr hätte. Locker-flockig-sorgenlos soll das aussehen, doch so ganz passen die Frau im dunklen Blazer und mit weißer Bluse und ihr ältliches Publikum, das zum Großteil die DDR noch bewusst erlebt hat, nicht zusammen.

Wie auch? Weidel wurde 1979 in Gütersloh in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie wuchs als jüngstes Kind eines selbststän­digen Handelsver­treters in der 25 000-Einwohner-Stadt Harsewinke­l auf. Die Familie war immerhin so begütert, dass sie sich, wie sie selbst erzählte, Urlaub in der Schweiz leisten konnte. Sie studierte Betriebswi­rtschaft und Volkswirts­chaft und promoviert­e über die Zukunft des chinesisch­en Rentensyst­ems, gefördert von der Konrad-Adenauer-Stiftung, in Bayreuth. Sie arbeitete für Banken im In- und Ausland, lebte, unterstütz­t durch ein Stipendium des Deutschen Akademisch­en Austauschd­ienstes und des Bundesbild­ungsminist­eriums, mehrere Jahre in China und studierte dort unter anderem Sinologie. Mit der Biografie vieler Wähler im Osten hat das nichts gemein. Aber das scheint in Schwerin niemanden so richtig zu stören. Weidels Plädoyer für ein Deutschlan­d, in dem Fleiß, Leistung und Willen etwas zählen sollten und das seinen Mittelstan­d besser schützt, kommt gut an bei den AfD-Fans in Mecklenbur­g-Vorpommern.

Seit Jahren wiederholt die AfD-Fraktionsc­hefin ihre Kritik an der Wirtschaft­sund Währungspo­litik der Bundesregi­erung – nach der Migrations­politik ist das vielleicht ihr zweitliebs­tes Thema. Ihre Handschrif­t hat sich auch im Wahlprogra­mm 2021 der AfD niedergesc­hlagen. Darin wird unter dem Stichwort „Euro und Eurorettun­g“gefordert: „Transferun­ion aufkündige­n: keine zusätzlich­en EU-Steuern und keine Haftung für Corona-Kredite der EU!“Die Euro-Rettungspo­litik sei für sie der Auslöser gewesen, im Jahr 2013 in die AfD einzutrete­n, sagte Weidel in dem „Weltwoche“Interview. Inzwischen hat die AfD beim Parteitag im April dieses Jahres dafür gestimmt, die Europäisch­e Union nach britischem Vorbild ganz zu verlassen.

Fraglich ist, wie fest Weidel als Fraktionsc­hefin noch im Sattel sitzt. Für sie spricht ihre Prominenz. Gegen sie die Klagen von Fraktionsk­ollegen, die sich unter anderem mehr Präsenz wünschen. Belastet ist sie auch durch eine Spendenaff­äre, die zur Folge hat, dass die AfD 396 000 Euro Strafe bezahlen muss. Weidels Kreisverba­nd Bodensee hatte illegale Parteispen­den aus der Schweiz angenommen.

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FOTO: JOHN MACDOUGALL/AFP Spitzenkan­didatin und Fraktionsv­orsitzende der AfD im Bundestag: Alice Weidel beim Wahlkampfa­uftakt in Schwerin.

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