Die Frau der Widersprüche
Alice Weidel kämpft als Spitzenkandidatin der AfD um Wählerstimmen – Ihr Wahlkreis liegt am Bodensee
SCHWERIN/BERLIN - Es wirkt fast so, als wolle sich Alice Weidel für etwas entschuldigen. Sie appelliert an das Publikum, Verständnis aufzubringen für Menschen wie sie, die sowohl einen Beruf als auch eine Familie haben. Sie freue sich auf den Wahlkampf, sagt die AfD-Spitzenkandidatin in Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Doch gleichzeitig betrübe sie der Gedanke, nicht genug für ihre Kinder da zu sein. „Es ist ein Drahtseilakt“, sagt die 42-Jährige.
Dann dankt sie ihrer Familie, „ohne die ich das nicht schaffen würde“, ihrer Partnerin, mit der sie zwei Söhne großzieht, und auch dem Publikum, das für sie auch wie eine Familie sei. Doch der Moment der demonstrativen Emotionalität verfängt nicht so richtig. Das Publikum reagiert eher ungerührt, mit wenig Beifall, auf die überraschende Offenheit der AfD-Fraktionschefin im Hinblick auf ihr Privatleben. Vielleicht, weil sich AfD-Anhänger unter Familie eine Konstellation vorstellen, wie sie das Schild vor der Wahlkampfbühne beschreibt: „Liebe. Mutter, Vater, Kinder“, ist darauf zu lesen.
Zu einer Zeit, als die beiden Bundesvorsitzenden der AfD Jörg Meuthen und Frauke Petry hießen, haben sich viele Beobachter der Partei gefragt, ob eine Frau wie Alice Weidel tatsächlich in dieser Partei, die in ihrem Wahlprogramm die Werte einer vergangenen Zeit beschwört, Karriere machen kann. Doch während Petry sozusagen das Schicksal des Parteigründers Bernd Lucke ereilte – Austritt aus der AfD, Verschwinden in der politischen Bedeutungslosigkeit –, festigte Weidel ihre Machtbasis. Seit September 2017 ist sie Fraktionschefin der AfD im Bundestag, seit November 2019 stellvertretende AfDBundessprecherin und seit Februar 2020 Vorsitzende des Landesverbandes Baden-Württemberg. Und nun erneut Spitzenkandidatin für eine Bundestagswahl.
Weidels Wahlkreis liegt trotz verschiedener Wohnsitze immer noch am Bodensee. Mit ihrer Familie lebt sie allerdings in der Region Einsiedeln im Schweizer Kanton Schwyz, und als Bundestagsabgeordnete und AfD-Fraktionschefin in Berlin. Ihr Verhältnis zum AfD-Bundeschef Jörg Meuthen, der ebenfalls aus Baden-Württemberg kommt, ist kein Gutes und hat sich im Zuge des parteiinternen Streits über den Umgang mit Rechtsaußen-Mitgliedern weiter verschlechtert. Meuthen befürwortete einen härteren Kurs als Weidel.
Die Zusammenarbeit mit ihrem CoFraktionsvorsitzenden im Bundestag, dem 80-jährigen Alexander Gauland, scheint hingegen zu funktionieren. „Alexander Gauland und ich ergänzen uns sehr gut“, sagte Weidel in einem Interview der Schweizer „Weltwoche“im September 2019.
Dass Gauland, der als geschickter Strippenzieher in der AfD gilt, Weidel neben sich Raum gibt, lässt sich so erklären: Ihre relative Jugend, ihr apartes Äußeres, ihr beruflicher Werdegang, ihre Auslandserfahrung und die Lebenspartnerschaft mit einer Frau kommen der AfD durchaus zupass, um dem Vorwurf, nur reaktionäre und ultrakonservative Positionen
zu vertreten, entgegenzutreten. In Fragen der Migrations- und Integrationspolitik spricht Weidel allerdings selbst die Sprache des rechten Rands, wenn sie mit Äußerungen über „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“provoziert. Das sind die Aussagen, mit denen sie auch das Stammklientel der AfD erreicht. Beim Wahlkampfauftakt in Schwerin fordert sie, Syrer wieder in ihre Heimat zurückzuschicken, „wo sie dringend gebraucht werden“. Dafür gibt es mehr Beifall als für ihr Bekenntnis des frühzeitigen Wunsches, eine eigene Familie haben zu wollen, in dem Wissen, „dass es für mich nicht einfach werden würde“. Doch so ein richtiges Knallerthema fehlt der AfD in einer Zeit, in der vor allem über den Klimawandel und die Bewältigung der Corona-Pandemie gesprochen wird.
Die Frage, ob die promovierte Ökonomin Weidel einfach eine Partei gesucht hat, die jung genug ist, um ihr einen raschen Aufstieg zu ermöglichen, oder ob sie tatsächlich überzeugt am rechten
Rand des Parteienspektrums steht, haben sich viele gestellt. Denn in ihrer
Vita wirkt einiges widersprüchlich: Einerseits redet Weidel abfällig über Asylbewerber und Migranten, die in Deutschland das Sozialsystem ausnutzten, andererseits hat ihre Lebenspartnerin selbst einen Migrationshintergrund – sie wurde in Sri Lanka geboren und in der Schweiz adoptiert. Einerseits plädiert Weidel für geschlossene Grenzen und warnt vor Männern muslimischen Glaubens, die das Leben in Deutschland unsicherer machten, andererseits beklagte sie im „Weltwoche“-Interview, dass sich ihr großer Freundeskreis, „aus einem eher linksliberalen Milieu“, zunehmend von ihr und ihrer Partnerin abgewandt habe.
In Schwerin gibt sich Weidel alle Mühe, wählernah zu sein. Geduldig lächelt sie in Kameras, schüttelt Hände, alles auf Zentimeterabstand. Das ist natürlich auch ein Statement gegen die Corona-Politik der Bundesregierung, die sie seit Monaten heftig kritisiert. Gleichzeitig wirbt sie so für die AfD als Partei der Impfgegner, wenn sie sich – als bekennend Ungeimpfte – von jedem in den Arm nehmen lässt, der gerne ein Handy-Foto mit ihr hätte. Locker-flockig-sorgenlos soll das aussehen, doch so ganz passen die Frau im dunklen Blazer und mit weißer Bluse und ihr ältliches Publikum, das zum Großteil die DDR noch bewusst erlebt hat, nicht zusammen.
Wie auch? Weidel wurde 1979 in Gütersloh in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie wuchs als jüngstes Kind eines selbstständigen Handelsvertreters in der 25 000-Einwohner-Stadt Harsewinkel auf. Die Familie war immerhin so begütert, dass sie sich, wie sie selbst erzählte, Urlaub in der Schweiz leisten konnte. Sie studierte Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft und promovierte über die Zukunft des chinesischen Rentensystems, gefördert von der Konrad-Adenauer-Stiftung, in Bayreuth. Sie arbeitete für Banken im In- und Ausland, lebte, unterstützt durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und des Bundesbildungsministeriums, mehrere Jahre in China und studierte dort unter anderem Sinologie. Mit der Biografie vieler Wähler im Osten hat das nichts gemein. Aber das scheint in Schwerin niemanden so richtig zu stören. Weidels Plädoyer für ein Deutschland, in dem Fleiß, Leistung und Willen etwas zählen sollten und das seinen Mittelstand besser schützt, kommt gut an bei den AfD-Fans in Mecklenburg-Vorpommern.
Seit Jahren wiederholt die AfD-Fraktionschefin ihre Kritik an der Wirtschaftsund Währungspolitik der Bundesregierung – nach der Migrationspolitik ist das vielleicht ihr zweitliebstes Thema. Ihre Handschrift hat sich auch im Wahlprogramm 2021 der AfD niedergeschlagen. Darin wird unter dem Stichwort „Euro und Eurorettung“gefordert: „Transferunion aufkündigen: keine zusätzlichen EU-Steuern und keine Haftung für Corona-Kredite der EU!“Die Euro-Rettungspolitik sei für sie der Auslöser gewesen, im Jahr 2013 in die AfD einzutreten, sagte Weidel in dem „Weltwoche“Interview. Inzwischen hat die AfD beim Parteitag im April dieses Jahres dafür gestimmt, die Europäische Union nach britischem Vorbild ganz zu verlassen.
Fraglich ist, wie fest Weidel als Fraktionschefin noch im Sattel sitzt. Für sie spricht ihre Prominenz. Gegen sie die Klagen von Fraktionskollegen, die sich unter anderem mehr Präsenz wünschen. Belastet ist sie auch durch eine Spendenaffäre, die zur Folge hat, dass die AfD 396 000 Euro Strafe bezahlen muss. Weidels Kreisverband Bodensee hatte illegale Parteispenden aus der Schweiz angenommen.