Tödliche Mutterliebe
Kaum eine Tat löst mehr Entsetzen aus als die Tötung des Kindes durch die eigene Mutter – Fachleute versuchen, die Motive dahinter zu entschlüsseln
Als Ende April in der Gemeinde Oberstadion (AlbDonau-Kreis) eine Mutter ihre beiden Kinder getötet haben soll, liefen im Fernsehen Bilder, wie sie bei solchen Tragödien oft zu sehen sind. Die Aufnahmen zeigten den Tatort, den Sitz der Familie, an dem der Vater das sechs Jahre alte Mädchen und den drei Jahre alten Jungen am Morgen leblos aufgefunden hatte. In einem unspektakulären, weißen Gebäude, inmitten gepflegter Wohnbebauung, umgeben von einer Hecke. Der Sonnenschirm auf der Veranda zusammengeklappt, die grauen Rollos am helllichten Tag heruntergelassen. Bilder wie diese wirken verstörend, weil sie in ihrer Normalität und Alltäglichkeit in einem krassen Kontrast stehen zu dem grausamen Geschehen. Weil sie Fragen aufwerfen, wie eine solche Tat innerhalb einer gewachsenen Gemeinschaft passieren kann. Und warum eine Mutter ihrem eigen Fleisch und Blut so etwas antut. Eine Antwort darauf fällt nicht leicht, weder in Oberstadion noch bei anderen Kindstötungen.
Für viele Menschen ist die Geburt des eigenen Kindes der schönste Augenblick im Leben, der rührt, der bewegt und dem Dasein eine neue Dimension verleiht. Der Nachwuchs wird in der Folge gehegt, gepflegt, aufgezogen und nicht zuletzt vor dieser Welt beschützt und verteidigt, und sei es in höchster Not auch mit dem eigenen Leben. Trotzdem zählt die Kriminalstatistik jährlich bis zu 140 Kinder, die durch die Hand des Vaters oder der Mutter sterben. Und manches Mal will sich der Täter oder die Täterin danach selbst umbringen.
So war es auch bei einer 36 Jahre alten Frau, die Ende vergangenen Jahres vor dem Landgericht Rottweil zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil sie in einem Waldgebiet bei Balgheim (Landkreis Tuttlingen) versucht hatte, ihren kleinen Jungen mit Messerstichen zu töten. Der Dreijährige, am Hals schwer verletzt, überlebte nach einer Notoperation nur, weil die zwölfjährige Schwester fliehen und Hilfe holen konnte. Die Mutter hatte noch versucht, sich selbst mit dem Messer zu töten.
In der Fachsprache ist dabei die Rede von einem erweiterten Suizid. „Was nicht selten darin endet, dass die Kinder tot sind, die Mutter dagegen, obwohl sie den Suizidversuch final angelegt hat, aber überlebt“, sagt Ursula Gasch, Leiterin des Instituts für Gerichts- und Kriminalpsychologie in Tübingen. Hintergrund dieser Taten, so Gasch, sind oft schwere Depressionen, wie sie auch bei der Mutter aus dem Landkreis Tuttlingen festgestellt wurden. Eine psychische Erkrankung, die zunehmend zu Erschöpfung führt, zu Freudlosigkeit und innerer Leere, und letztlich dem Wunsch zu sterben. Und dabei den Nachwuchs mitzunehmen.
„Diese Frauen können sich nicht vorstellen, ihr Kind alleine zurückzulassen“, erklärt Gasch. Was zwar kaltherzig klingen mag, fühlt sich für die Betroffenen jedoch wie Fürsorge an. Die, wenn sie den Suizidversuch überleben, mit Vehemenz betonen, eine starke Bindung zu ihrem Nachwuchs zu empfinden. Die nicht zwischen ihren und den Gefühlen des Kindes unterscheiden können. Und daran glauben, dem Sohn oder der Tochter durch die Tötung zu helfen. Die auf krankhafte Weise selbstlos und gleichzeitig egozentrisch handeln. Deren verzerrte Muttergefühle dramatische Folgen mit sich bringen.
Eine irrationale Wahrnehmung liegt im Extremfall auch bei akut psychotischen Zuständen vor, wie Gasch erklärt. „Dann haben die Frauen Verfolgungsideen, es entstehen mitunter wahnhafte Überzeugungen, das Baby sei ausgetauscht worden oder ein Kind des Satans.“Einer der bekanntesten Fälle ist Andrea Yates aus den USA, die ihre fünf Kinder eines nach dem anderen ertränkte. Sie war der Überzeugung, die Kinder würden vom Teufel heimgesucht und nur durch den Tod könnte sie diese vor der Hölle bewahren. In den Medien wurde sie als „die böseste Mutter der Welt“bezeichnet. „In gewisser Weise wollen diese Mütter ihre Kinder jedoch beschützen“, sagt Gasch. Mit grausamen Konsequenzen.
Vermeintlich altruistische Motive liegen bei Kindstötungen bei Weitem aber nicht immer vor. Kinder und Kleinkinder werden auch hierzulande von ihren Eltern vernachlässigt, sie verwahrlosen oder verhungern, sie werden geschlagen, geschüttelt und gequält. „Schwere Gewalttaten haben ihren Hintergrund oft im familiären Sozialisationsverhalten“, sagt Helmut Kury, Psychologe und Kriminologe aus Freiburg. „Mütter, die so etwas tun, kommen oft aus schwerst gestörten und enorm belasteten Familienverhältnissen“, so Kury zur „Schwäbischen Zeitung“. Auslöser seien dann eine Vielzahl von Faktoren, wie Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Alkohol und Trennungen; Lebenskrisen, die sich entladen und die Schwächsten schlimmstenfalls tödlich treffen. Und manchmal ist ein Kind auch einfach nicht gewollt.
In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele dafür, seit der Antike kennt die Menschheit das Beseitigen des eigenen Nachwuchses. Schon Philosophen billigten das weitverbreitete Töten beziehungsweise Aussetzen „missgebildeter“Neugeborener. Erst mit der Vorrangstellung des Christentums änderte sich die Sicht auf Kindstötungen, die oft drakonisch bestraft wurden. Sich aber trotzdem nicht verhindern ließen und vor allem aus sozialer Not heraus geschahen, aus Hunger und Armut, wie der Mediziner Michael Soyka in einem wissenschaftlichen Beitrag feststellt: „Vor 200 Jahren waren die Zuchthäuser voll von Frauen, die ihre Kinder getötet haben, weil sie sich und ihren Kindern dieses Schicksal ersparen wollten.“Noch vor 150 Jahren wurde die Zahl der Tötungen von Neugeborenen in Deutschland auf mehrere Tausend pro Jahr geschätzt. 1950 soll es immerhin noch 300 Babys gegeben haben, die innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt getötet wurden (Neonatizid). Heute wird eine Zahl im niedrigen zweistelligen Bereich angegeben, wobei Experten von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. „Das Entdeckungsrisiko ist beim Neonatizid am geringsten“, sagt Ursula Gasch.
Festgenommen dagegen und zu einer Haftstrafe verurteilt wurde vor zwei Jahren eine Frau, die auf einer Autofahrt im Kreis Sigmaringen ihren Freund um eine Pause bat, weil sie Bauchkrämpfe habe. In Wirklichkeit war die Frau ohne Wissen des Partners schwanger und bekam ihre Wehen. Etwas abseits in der Dunkelheit brachte die 23-Jährige das Kind zur Welt. Wegen der Schreie steckte sie dem Neugeborenen ein Stück Papier in den Mund, ließ es zurück und setzte die Autofahrt fort. Das Baby erstickte.
„Das sind verdrängte und verleugnete Schwangerschaften“, erklärt Christiane Hornstein, Ärztliche Leiterin am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch. „Dabei handelt es sich häufig um Frauen, die traumatisiert sind oder aus sozial schwierigen Situationen kommen.“Frauen, so Hornstein, deren Partner das Kind vielleicht nicht haben wollen, die unter Geldsorgen leiden oder auch Missbrauch erfahren haben. Die vor sich und vor ihrem Umfeld die Schwangerschaft nicht wahrhaben wollen. „Diese Frauen können sehr überzeugend sein.“Sie benehmen sich wie immer, kleiden sich wie gewohnt, leben ihren Alltag, sodass nicht mal die Angehörigen von dem werdenden Kind etwas merken. Oder vielleicht auch gar nichts merken wollen. „Mit der Geburt und der Anwesenheit des Kindes kommt für die Mutter die Konfrontation mit der Wirklichkeit.“Und das Kind wird in Panik und Verzweiflung getötet oder ausgesetzt. Aber lässt sich so ein Grauen nicht verhindern?
„Das Problem ist, die Frauen müssten über die Schwelle gehen, um sich helfen zu lassen“, sagt Hornstein. Dafür müssten sie zuerst akzeptieren, dass sie schwanger sind. Unterstützt von Angehörigen oder dem Partner, wenn die genau hinschauen und sich nicht täuschen lassen. Anders, so die Neurologin, sieht es bei schwerst depressiven Frauen aus, die ihr Kleinkind töten. Weil diese Frauen eher über ihre innere Leere sprechen würden, dass sie ihr Baby nicht lieben könnten, dass sie es nicht mehr haben wollen und auch selber nicht mehr auf dieser Welt sein wollen. „Da kündigt sich die Tat an“, sagt Hornstein.
Ähnlich äußert sich der Essener Psychotherapeut Christian Lüdke in einem WDR-Interview über Eltern, die ihre Kinder töten. „Solche Taten deuten sich immer an“, sagte Lüdke. „Man kann im Verhalten solcher Mütter oder Väter Änderungen feststellen. Sie ziehen sich zurück, isolieren sich, sind teilweise aggressiv in der Sprache.“Was sich in Sätzen äußere wie: „Wenn es so weitergeht, dann seht ihr alle noch schwarz, dann werdet ihr an mich denken.“
In Krisensituationen geraten viele Eltern; sie trennen sich, fühlen sich überfordert oder seelisch niedergeschlagen, aber nur die wenigsten würden ihrem Kind etwas Schlimmes antun. Dabei spielen, wie die Experten betonen, Faktoren wie emotionale Stabilität, Selbstwertgefühl und Widerstandsfähigkeit eine Rolle. Welche Aspekte genau zu der Tragödie in Oberstadion führten, ist nicht bekannt. Die verdächtige Mutter wurde nach einer Suchaktion von der Polizei im Umfeld der Gemeinde aufgegriffen und wird nun psychiatrisch untersucht. Die Polizei teilte nur mit, sie gehe von einem Familiendrama aus. So bleibt das, was hinter den grauen Rollos und der weißen Fassade geschah, auch weiterhin unvorstellbar. Nur eines ist traurige Gewissheit: Zwei Kinder sind tot, ein Mädchen und ein Junge.
„Diese Frauen können sich nicht vorstellen, ihr Kind alleine zurückzulassen.“
Kriminalpsychologin Ursula Gasch über seelisch erkrankte Mütter