Von Jägern und Gejagten
Noch nie gab es mehr Jäger als heute – und noch nie mehr Vegetarier. Über einen unversöhnlichen Konflikt
BAD WURZACH - Liselotte Seitz kann sich noch gut an jenen kühlen Sommertag erinnern, als sie zum ersten Mal ein Tier tötete. Die Jägerprüfung hatte sie bestanden, doch das Gewehr fühlte sich auf dem Weg zum Hochstand womöglich noch etwas schwerer an als bei den vielen Stunden am Schießstand. In einem Wald bei Haidgau (Landkreis Ravensburg) lauerte sie auf ihre erste Beute. Nach einer Weile tauchte ein junger Rehbock auf, der im Dickicht geruht hatte – und nun ins Fadenkreuz des Zielfernrohrs geriet. Die tödliche Gefahr nicht ahnend, zupfte er selbstvergessen an einem Zweig, „er war arglos“, erinnert sich Seitz, womit sie sagen will: Das Tier spürte keinen Stress – auch nicht, als der Schuss durch den Wald hallte. Die Kugel traf den Bock im Brustkorb, wo die lebenserhaltenden Organe sitzen, seine Läufe gaben nach, der leblose Körper fiel auf den weichen Boden. „Ich war aufgewühlt und froh“, erzählt die Schützin. Froh über die gelungene Tat, froh nun eine Jägerin zu sein. Und auch froh, dass das Tier nicht leiden musste.
Auf jenen ersten tödlichen Schuss vor fast genau 25 Jahren folgten noch viele weitere. Die heute 57-Jährige sitzt in der Wohnstube des Familienhofs bei Bad Wurzach, an einer Wand hängen kleine Geweihe von Böcken und auf Holzplatten montierte Eckzähne von Wildschweinen. Ein ausgestopftes Murmeltier ziert die Trophäenecke, die sichtbar, aber nicht raumgreifend neben der Küche liegt. „Trophäen haben ihre Berechtigung“, sagt Liselotte Seitz. Darauf reduzieren lassen will sie sich aber nicht.
Das Jagen boomt
Genau das tut jedoch ein Teil der Öffentlichkeit, der in Jägern noch immer dickbäuchige Männer in schweren Lodenmänteln sieht, die die Größe eines Geweihs zum Maßstab ihrer Männlichkeit machen. Ein Klischee, meint Peter Lutz, Bezirksjägermeister im Regierungsbezirk Tübingen: „Das Jagen ist im Wandel“, betont er. Und es boomt. Mehr als 380 000 Deutsche besitzen einen Jagdschein, mehr als 20 000 Jagdschüler meldet der Deutsche Jagdverband (DJV) für 2018, fast doppelt so viel wie 2009. In Baden-Württemberg beträgt die Zunahme seit 2006 sogar 350 Prozent. Die heutige Jägergeneration komme zudem aus der Mitte der Gesellschaft. In den Kursen sitzen 16-jährige Schüler neben Rentnern. Bürokaufleute zieht es genauso mit Büchse in den Wald wie Elektrotechniker, Ingenieure und auch Krankenschwestern. Zu rund einem Viertel sind es Frauen, die die Jagdscheinprüfung machen. „Das tut der Jagd gut“, findet Lutz.
Diese Entwicklung spürt auch Liselotte Seitz, die sich freut, dass ihre weibliche Sicht unter den Waidmännern Gehör findet. Das sei früher anders gewesen: „Da wollte man mir noch den Mund verbieten.“Inzwischen leitet sie selber Kurse zum Jagdschein.
Von außen wird dem weiblichen Drang zur Jagd weniger Verständnis zuteil. Als Seitz vor Jahren einem Wochenblatt ein Interview zum Thema Jagen und Frauen gab, bekam sie auch negative Resonanz, wie: „Als Mutter schenken Sie Leben, wie können Sie da ein Tier töten?“Die Kritisierte findet einen solchen Vorwurf bedauerlich, aber bezeichnend: „Die Leute denken: ,Mein Kind soll in einer heilen Welt groß werden' – da gehört der Tod nicht dazu.“
Die Verbindung Frauen und Jagd hat sich inzwischen etabliert, die grundsätzliche Kritik am Jagen aber verstummt nicht. Im Gegenteil, sie scheint lauter zu werden. Das verwundert kaum, ernähren sich einer Allensbach-Statistik zufolge doch mittlerweile mehr als sechs Millionen Deutsche vegetarisch und rund eine Million vegan. Vielen ist das Fleischlose eine Lebensphilosophie, die das eigene Dasein definiert. So entsteht eine paradoxe, auf den ersten Blick widersprüchliche Situation: Während immer mehr Menschen ihre Sehnsucht nach Naturerlebnissen befriedigen, indem sie Wald und Wiese mit Gewehr aufsuchen, zeigen andere ihre Erdverbundenheit, indem sie den Schutz aller Lebewesen ins Zentrum stellen.
Dieser Bruch führt zu kontroversen, bisweilen brachial ausgetragenen Diskussionen. Einerseits erscheinen Bücher wie „Tiere töten und essen: Von der natürlichsten aller Lebensweisen“. Oder FDP-Chef und Hobbyjäger Christian Lindner sinniert in einem Interview mit dem „Göttinger Tageblatt“: „Das erlegte Tier sieht den Menschen eigentümlich ähnlich. Man sieht den Verdauungstrakt, in dem das gerade gefressene Gras drin ist. Es fließt Blut. Darauf muss man sich einstellen.“Auf der anderen Seite verkaufen Tierschützer Aufkleber mit der Aufschrift „Jäger sind Mörder“oder gründen Plattformen wie die „Initiative zur Abschaffung der Jagd“. Oftmals verläuft der Graben direkt durch die Familien. Auch Liselotte Seitz kennt Jäger, die von ihrer Frau und den Kindern angeklagt werden: „Wie kannst du nur Bambi töten?“Ein Jäger fühlt sich dann schon mal wie der Gejagte.
„Sportliche Tötungsfreude“
Zu den Kritikern zählt auch der aus dem Fernsehen bekannte Bestsellerautor und Philosoph Richard David Precht. In seinem Buch „Tiere denken“schreibt er von der Jagd als „Strafexpedition gegen die Wildnis“, von „sportlicher Tötungsfreude“und meint, die Krankenkassen seien gefordert, „Entzugstherapien anzubieten, um Jäger von ihrer schrägen Passion zu befreien“. Die harsche Antwort vom Deutschen Jagdverband („Wenn Philosophen denken“) ließ nicht auf sich warten. Auch gemäßigten Beträgen zu dem Thema widerspricht der DJV kategorisch, etwa jenem vom Ranganathan Yogeshwar, der in seiner Fernsehsendung „Quarks & Co“fragte: „Brauchen wir noch Jäger?“
Eine Antwort darauf fällt nicht leicht. Das menschliche Gehirn, so sagen Experten, konnte sich erst durch Fleischgenuss entwickeln, dieser lieferte den Treibstoff für den entstehenden Homo sapiens. Mit Ackerbau und Viehzucht, also schon mehr als 10 000 Jahre vor Christus, verlor die Jagd dann aber zunehmend an Bedeutung. Heute betonen die Jäger ihre Pflicht zur Jagd in einer von Menschen gemachten Kulturlandschaft. Die Gegenseite träumt gleichzeitig von einer sich selbst überlassenen Natur, in der sich das Wild von alleine reguliert. Die Tierrechtsorganisation Peta stellt dazu fest, die Jagd sei „ein überflüssiges Hobby, das der Befriedigung der Jagdlust der Jäger dient“. Was dann doch recht unversöhnlich klingt.
„Ich würde mir eine faire Diskussion wünschen“, sagt Bezirksjägermeister Lutz, eine, die weniger polemisch daherkomme, weniger hartherzig. Ein nachvollziehbares Anliegen. Dazu müssten die Jäger allerdings auch einen Beitrag leisten. Offenbar getrieben vom permanenten Druck, sich rechtfertigen zu müssen, wirken ihre Einlassungen manchmal ähnlich rechthaberisch wie die der Tierfreunde. Davon abgesehen fällt auf, dass der Deutsche Jagdverband in der Öffentlichkeitsarbeit seinen Status als staatlich anerkannte Naturschutzvereinigung aufs Podest stellt. Die Jagdscheinprüfung nennt er etwas blumig „Grünes Abitur“, und Ziel sei die „Förderung der frei lebenden Tierwelt im Rahmen des Jagdrechts sowie des Natur- und Landschafts-, Umweltund Tierschutzes”. Auf den Punkt gebracht: „Jagd ist angewandter Naturschutz.“Aber wird deshalb jemand Jäger?
Der DJV selber hat im Jahr 2017 Jungjäger zu ihrer Motivation befragt. An erster Stelle steht demnach das Bedürfnis, in der Natur zu sein sowie der Naturschutz. Auch wird angekreuzt „Ich esse gerne Wild“. Und: „Freude an der Jagd“. Doch was genau heißt das?
Ein Jäger, der nicht mit Namen genannt werden will, beschreibt es im Gespräch so: „Es gibt diesen Jagdtrieb beim Menschen.“Den Drang nach der Pirsch, dem Lauern auf die Beute, die Freude daran, das Tier zu überlisten und zu erlegen. Verbunden mit einem „gewissen Hochgefühl“, wie er sagt. Die Jagd wäre somit keine pathologische Tat, die es zu behandeln gilt, sondern ein Teil unserer DNA, instinktiv ausgeübt, nicht am Schießstand, sondern unter freiem Himmel und auf weichem Waldboden. Dazu könne man getrost auch stehen, „anstatt blöd daran vorbeizureden“, findet der Jäger.
Liselotte Seitz versteht diese Sichtweise. Von einem „Hochgefühl“beim Erlegen eines Tieres will sie zwar nicht sprechen, „das Überlisten übt aber auch für mich seinen Reiz aus“. Und ja, vielleicht müsse die Jägerschaft mit Themen wie Jagdinstinkt offensiver umgehen: „Das ist ein Punkt, an dem wir uns angreifbar machen.“
Mit einem offenen Umgang würden aus Jägern und Veganern gewiss noch keine Freunde, möglicherweise stünden sie sich aber weniger gallig gegenüber. Und würden dabei feststellen, dass sie sich in ihrer Sehnsucht nach Natur und gesunder Ernährung, nach Entschleunigung und nach Ursprünglichkeit vielleicht ähnlicher sind, als sie wahrhaben wollen.
„Der Rehbock war arglos. Ich war aufgewühlt und froh.“Liselotte Seitz über ihren ersten Todesschuss vor 25 Jahren