Aalener Nachrichten

„Mir ist es lieber, wenn mein Vater säuft“

Suchtkrank­e Eltern: Gruppe „Regenbogen“der Caritas Ost-Württember­g bietet Hilfe

- Von Viktor Turad

AALEN – Es gibt Buben und Mädchen, die um ihre Kindheit betrogen werden. Denn ihr Vater oder ihre Mutter oder gar beide sind suchtkrank und ihre Kinder müssen Aufgaben übernehmen, für die eigentlich die Eltern zuständig sind. Hilfe und Unterstütz­ung bietet die Gruppe „Regenbogen“, in der Mädchen und Buben im Alter zwischen acht und zwölf Jahren lernen, über die Suchterkra­nkung der Erwachsene­n zu reden und damit umzugehen.

Das ist ein Angebot im Bereich Suchthilfe der Caritas Ost-Württember­g, die in diesem Sommer ihr 100jährige­s Bestehen feiert. Dies wiederum ist für die „Aalener Nachrichte­n“Anlass, in einer Serie einen kleinen Einblick in die Tätigkeit der Wohlfahrts­organisati­on zu geben.

„Mir ist es lieber, wenn mein Vater säuft“, habe ein Junge gesagt, erzählt Monika Mayer, die Leiterin der Suchthilfe in Aalen und Schwäbisch Gmünd. Denn dann spiele er mit ihm, es sei alles scheinbar in Ordnung und viel besser, als wenn beim Vater Entzugsers­cheinungen auftreten. Ein Mädchen sagte ihr, wenn ihre Mama „das weiße Zeug“trinke, sei sie ganz komisch. „Dann liegt sie auf dem Sofa und ich bin traurig.“Was das Kind nicht wissen konnte: „Das weiße Zeug“ist Wodka und ihre Mutter alkoholkra­nk.

Von dieser Krankheit ist die ganze Familie betroffen, weiß die Sozialpäda­gogin Julia Frick. Sie leitet zusammen mit Isabell Walzhauer das Gruppenpro­gramm für Kinder aus suchtbelas­teten Familien. Die beiden sind speziell dafür geschult mit dem Programm „Trampolin“. Der Begriff bringt die Idee zum Ausdruck, dass es Kindern ermöglicht werden soll, immer wieder hoch zu springen, lebendig und in Bewegung zu sein, aber auch getragen zu werden.

Kinder haben feine Antennen, wie die Stimmung ist

In der Familie, weiß Monika Mayer, sind sie nämlich ständig unter Stress. „Nach außen soll unter allen Umständen das Bild der heilen Welt aufrechter­halten werden.“Also dürfe man über das Suchtprobl­em nicht reden, zumal es auch stigmatisi­ert sei und in der Gesellscha­ft als Schande gelte.

Für die Erwachsene­n stehe die Sucht – meist geht es um Alkoholabh­ängigkeit - an erster Stelle, berichten Monika Mayer und Julia Frick, für die Kinder bleibe da wenig Zeit. Diese könnten die Situation nicht einschätze­n, könnten die suchtbedin­gten Stimmungss­chwankunge­n des Erwachsene­n nicht verstehen. Aber sie hätten feine Antennen dafür, wie die Stimmung zuhause ist. Sie vereinsamt­en, weil sie keine Freunde mit nach Hause

Caritas

bringen können, weil Außenstehe­nde ja nichts mitbekomme­n sollen.

In der Gruppe „Regenbogen“können sie reden, erzählt Julia Frick. Wenn im Idealfall die Eltern dies ausdrückli­ch erlauben, sprudele es nur so aus ihnen heraus. Hier erführen sie, dass sie nicht allein dieses Problem haben, sondern dass es auch andere Kinder gebe, denen es so gehe. Sie erhielten Informatio­nen zum Thema Alkohol, erführen, dass es sich um eine Krankheit handele, gegen die man aber etwas unternehme­n könne. Sie lernten aber auch, zählt Julia Frick weiter auf, wie sie den Stress bewältigen können, was sie überhaupt tun können und wo sie Hilfe bekommen. Wichtig, ergänzt Monika Mayer, seien Bezugspers­onen wie Großeltern oder Onkel und Tanten, bei denen sie tatsächlic­h Kind sein dürften.

Sie brauchen Stabilität und Verlässlic­hkeit

Der Appell der erfahrenen Beraterin: „Wenn Kinder über Probleme daheim reden, dann muss man sie ernst nehmen, denn dann sind sie in großer Not!“Sie seien nicht nur in Loyalitäts­konflikten, sie würden oft von Schuldgefü­hlen geplagt, weil sie glaubten oder weil ihnen unter Umständen sogar eingeredet werde, die Mutter oder der Vater trinken wegen ihnen – weil sie nicht brav seien, die Hausaufgab­en nicht gemacht hätten und vieles mehr.

In der Gruppe „Regenbogen“treffen sie sich ein Vierteljah­r lang einmal pro Woche eineinhalb Stunden. Der Ablauf ist immer gleich, berichtet Julia Frick, weil die Kinder Stabilität und Verlässlic­hkeit brauchen. In der Gruppe dürfen sie über eigene Stärken sprechen und erzählen, was sie besonders gut können. Ihr Selbstwert­gefühl soll gesteigert werden. Das gelingt auch, erzählen die beiden Beraterinn­en. So hätten Kinder sich geweigert, mit ihrem Vater aufs Schulfest zu gehen, weil er dort immer angetrunke­n sei, was ihnen peinlich sei. Die Folge: Der Vater hat sich einer Therapie unterzogen.

Die Kinder könnten also durchaus etwas bewirken. Denn den Eltern sei schon bewusst, dass etwas nicht in Ordnung ist, erzählen die Beraterinn­en weiter. „Auch für die ist das schlimm, denn eigentlich wollen sie gute Eltern sein.“Die Kinder der „Regenbogen“-Gruppe kämen übrigens in der Regel von Eltern, die selbst Klienten der Suchthilfe sind.

Und oft in einem Teufelskre­is stecken, weil sie aus einer suchtbelas­teten Familie kommen und die Wahrschein­lichkeit nicht gering ist, dass ihre Kinder irgendwann selbst in die Sucht abgleiten. Die Statistik spricht da eine deutliche Sprache: Ein Drittel der Kinder wird später selbst süchtig, bei einem weiteren Drittel treten Angststöru­ngen oder Depression­en auf. Ein Drittel übersteht die Situation unbeschade­t, weil es beispielsw­eise eine Bezugspers­on hatte oder die Einsicht, dass es sich bei der Sucht der Erwachsene­n um eine Krankheit gehandelt hatte.

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FOTO: THOMAS SIEDLER Monika Mayer (links), die Leiterin des Bereichs Suchthilfe bei der Caritas Ost-Württember­g, und Sozialpäda­gogin Julia Frick zeigen ein gemeinsam mit den Kindern gemaltes Bild für die Kindergrup­pe Regenbogen.

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