„Mir ist es lieber, wenn mein Vater säuft“
Suchtkranke Eltern: Gruppe „Regenbogen“der Caritas Ost-Württemberg bietet Hilfe
AALEN – Es gibt Buben und Mädchen, die um ihre Kindheit betrogen werden. Denn ihr Vater oder ihre Mutter oder gar beide sind suchtkrank und ihre Kinder müssen Aufgaben übernehmen, für die eigentlich die Eltern zuständig sind. Hilfe und Unterstützung bietet die Gruppe „Regenbogen“, in der Mädchen und Buben im Alter zwischen acht und zwölf Jahren lernen, über die Suchterkrankung der Erwachsenen zu reden und damit umzugehen.
Das ist ein Angebot im Bereich Suchthilfe der Caritas Ost-Württemberg, die in diesem Sommer ihr 100jähriges Bestehen feiert. Dies wiederum ist für die „Aalener Nachrichten“Anlass, in einer Serie einen kleinen Einblick in die Tätigkeit der Wohlfahrtsorganisation zu geben.
„Mir ist es lieber, wenn mein Vater säuft“, habe ein Junge gesagt, erzählt Monika Mayer, die Leiterin der Suchthilfe in Aalen und Schwäbisch Gmünd. Denn dann spiele er mit ihm, es sei alles scheinbar in Ordnung und viel besser, als wenn beim Vater Entzugserscheinungen auftreten. Ein Mädchen sagte ihr, wenn ihre Mama „das weiße Zeug“trinke, sei sie ganz komisch. „Dann liegt sie auf dem Sofa und ich bin traurig.“Was das Kind nicht wissen konnte: „Das weiße Zeug“ist Wodka und ihre Mutter alkoholkrank.
Von dieser Krankheit ist die ganze Familie betroffen, weiß die Sozialpädagogin Julia Frick. Sie leitet zusammen mit Isabell Walzhauer das Gruppenprogramm für Kinder aus suchtbelasteten Familien. Die beiden sind speziell dafür geschult mit dem Programm „Trampolin“. Der Begriff bringt die Idee zum Ausdruck, dass es Kindern ermöglicht werden soll, immer wieder hoch zu springen, lebendig und in Bewegung zu sein, aber auch getragen zu werden.
Kinder haben feine Antennen, wie die Stimmung ist
In der Familie, weiß Monika Mayer, sind sie nämlich ständig unter Stress. „Nach außen soll unter allen Umständen das Bild der heilen Welt aufrechterhalten werden.“Also dürfe man über das Suchtproblem nicht reden, zumal es auch stigmatisiert sei und in der Gesellschaft als Schande gelte.
Für die Erwachsenen stehe die Sucht – meist geht es um Alkoholabhängigkeit - an erster Stelle, berichten Monika Mayer und Julia Frick, für die Kinder bleibe da wenig Zeit. Diese könnten die Situation nicht einschätzen, könnten die suchtbedingten Stimmungsschwankungen des Erwachsenen nicht verstehen. Aber sie hätten feine Antennen dafür, wie die Stimmung zuhause ist. Sie vereinsamten, weil sie keine Freunde mit nach Hause
Caritas
bringen können, weil Außenstehende ja nichts mitbekommen sollen.
In der Gruppe „Regenbogen“können sie reden, erzählt Julia Frick. Wenn im Idealfall die Eltern dies ausdrücklich erlauben, sprudele es nur so aus ihnen heraus. Hier erführen sie, dass sie nicht allein dieses Problem haben, sondern dass es auch andere Kinder gebe, denen es so gehe. Sie erhielten Informationen zum Thema Alkohol, erführen, dass es sich um eine Krankheit handele, gegen die man aber etwas unternehmen könne. Sie lernten aber auch, zählt Julia Frick weiter auf, wie sie den Stress bewältigen können, was sie überhaupt tun können und wo sie Hilfe bekommen. Wichtig, ergänzt Monika Mayer, seien Bezugspersonen wie Großeltern oder Onkel und Tanten, bei denen sie tatsächlich Kind sein dürften.
Sie brauchen Stabilität und Verlässlichkeit
Der Appell der erfahrenen Beraterin: „Wenn Kinder über Probleme daheim reden, dann muss man sie ernst nehmen, denn dann sind sie in großer Not!“Sie seien nicht nur in Loyalitätskonflikten, sie würden oft von Schuldgefühlen geplagt, weil sie glaubten oder weil ihnen unter Umständen sogar eingeredet werde, die Mutter oder der Vater trinken wegen ihnen – weil sie nicht brav seien, die Hausaufgaben nicht gemacht hätten und vieles mehr.
In der Gruppe „Regenbogen“treffen sie sich ein Vierteljahr lang einmal pro Woche eineinhalb Stunden. Der Ablauf ist immer gleich, berichtet Julia Frick, weil die Kinder Stabilität und Verlässlichkeit brauchen. In der Gruppe dürfen sie über eigene Stärken sprechen und erzählen, was sie besonders gut können. Ihr Selbstwertgefühl soll gesteigert werden. Das gelingt auch, erzählen die beiden Beraterinnen. So hätten Kinder sich geweigert, mit ihrem Vater aufs Schulfest zu gehen, weil er dort immer angetrunken sei, was ihnen peinlich sei. Die Folge: Der Vater hat sich einer Therapie unterzogen.
Die Kinder könnten also durchaus etwas bewirken. Denn den Eltern sei schon bewusst, dass etwas nicht in Ordnung ist, erzählen die Beraterinnen weiter. „Auch für die ist das schlimm, denn eigentlich wollen sie gute Eltern sein.“Die Kinder der „Regenbogen“-Gruppe kämen übrigens in der Regel von Eltern, die selbst Klienten der Suchthilfe sind.
Und oft in einem Teufelskreis stecken, weil sie aus einer suchtbelasteten Familie kommen und die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass ihre Kinder irgendwann selbst in die Sucht abgleiten. Die Statistik spricht da eine deutliche Sprache: Ein Drittel der Kinder wird später selbst süchtig, bei einem weiteren Drittel treten Angststörungen oder Depressionen auf. Ein Drittel übersteht die Situation unbeschadet, weil es beispielsweise eine Bezugsperson hatte oder die Einsicht, dass es sich bei der Sucht der Erwachsenen um eine Krankheit gehandelt hatte.