Von Liebe und Hass
Gretel Bergmann ist mit 103 Jahren in New York gestorben – Von den Nazis verjagt, versöhnte sich die Laupheimerin spät mit ihrer Heimat
Nur Sekunden brauchen Hochspringer, um die Latte zu überqueren, und genauso schnell, bis fast zuletzt, hat Gretel Bergmann erfasst, wer sie anrief aus der alten Heimat. „Kommt rüber auf ein Glas Champagner“, ermunterte sie Gratulanten aus Laupheim zu einem Besuch in Amerika anlässlich ihres 103. Geburtstags am 12. April. Am Dienstag ist die ehemalige Spitzensportlerin in ihrem Haus in New York gestorben. „Unsere Mutter ist friedlich eingeschlafen“, berichten die Söhne Glenn und Gary. Erinnerungen an ungewöhnliche Begegnungen mit einer außergewöhnlichen Frau. Frankfurt am Main, im November 1999: Ein Raunen geht durch die Alte Oper. Sie ist da! Leichtfüßig eilt Gretel Bergmann, 85 Jahre alt, auf die Bühne. Der Flieger aus Amerika ist verspätet gelandet, die Verleihung der Georg-von-Opel-Preise an herausragende Sportler bereits in vollem Gang. Doch binnen Sekunden müssen ein Franz Beckenbauer, ein Michael Stich jetzt mit Nebenrollen vorlieb nehmen. Fast magisch zieht Bergmann alle Aufmerksamkeit auf sich, erobert mit Humor und Schlagfertigkeit die Herzen im Sturm. „Was war Ihr Erfolgsrezept als Hochspringerin?“, will der Moderator wissen. Gretel schaut schmunzelnd an sich hinunter: „Long legs – lange Beine.“
Unter Tränen schließt sie nach dem Festakt Burkhard Volkholz in die Arme, jenen Stadtrat und Sportfunktionär aus Laupheim, der ihr hartnäckig Briefe schrieb und entscheidend dazu beigetragen hat, den Prozess der Wiederannäherung an Deutschland zu fördern. „Nie wieder werde ich dorthin zurückkehren“, hatte Bergmann sich 1937 geschworen, als sie den Dampfer nach New York bestieg. Die Nationalsozialisten hatten sie lange glauben lassen, dass ein Start bei Olympia möglich wäre, sie jedoch, wie sich herausstellte, nur als Alibi-Jüdin missbraucht, um sich dem Ausland gegenüber als weltoffen zu präsentieren und einen Boykott vor allem der Amerikaner zu vermeiden. Wenige Tage vor dem Beginn der Spiele warf der Reichssportführer die Medaillenanwärterin, die soeben mit einer Höhe von 1,60 Meter den deutschen Rekord egalisiert hatte, aus der Mannschaft. Laupheim, im November 1999: Zum ersten Mal nach 62 Jahren besucht Bergmann Laupheim, wo sie eine unbeschwerte Kindheit genoss – „Niemanden hat es gekümmert, ob einer Jude war oder Nicht-Jude, Katholik oder was auch immer.“Jetzt sind die Schatten der Vergangenheit im Gepäck, während des mehrtägigen Aufenthalts wackelt die emotionale Latte mehrfach bedenklich. Ein Besuch in der Haarfabrik, die einst von ihrer Familie gegründet und 1939 „arisiert“wurde, nimmt sie sichtlich mit. Als ein Kamerateam sie auf dem Ulmer Hauptbahnhof bei Minusgraden interviewen will, just dort, wo sie 1937 von ihren Eltern Abschied nahm und nach Amerika aufbrach,
da sucht sie innerlich und äußerlich frierend das Weite. Bei einem Empfang im Laupheimer Rathaus legt sie ihre seelischen Wunden offen: „Als das Land, das ich von ganzem Herzen geliebt hatte, meine Liebe mit Hass auf mich und alle jüdischen Menschen erwiderte, war ich gezwungen zu gehen. Und meinerseits war ich nun erfüllt mit Hass auf alles Deutsche, ein Gefühl, das mich jahrelang nicht mehr verließ.“
November 2000: Ein Jahr nach ihrem Besuch sagt Gretel Bergmann der „Schwäbischen Zeitung“, die Rückkehr zu den Wurzeln habe einen inneren Heilungsprozess gefördert: „Ich habe meinen Frieden gefunden, dafür bin ich sehr dankbar.“Es sei töricht gewesen, sich so lange vor Hass zu verzehren. „Die jungen Leute in Deutschland haben nichts damit zu tun, man darf sie nicht für die Verbrechen früherer Generationen verantwortlich machen.“
September 2003: Bergmann kommt noch einmal nach Laupheim, ganz entspannt, mit einem Filmteam, das eine Dokumentation über ihr Leben dreht. An einem schönen Spätsommertag sitzt sie auf der Hochsprungmatte in dem nach ihr benannten Stadion, reckt den Arm und berührt die Latte, die symbolträchtig auf 1,60 Meter liegt, ihre Rekordhöhe von 1936, von den Nazis aus den Annalen getilgt. Erst 2009 erkennt der Deutsche Leichtathletik-Verband die Bestmarke von damals offiziell an.
Frage an die 89-Jährige: „Wann kommen Sie das nächste Mal nach Laupheim?“Vermutlich gar nicht mehr, sagt Bergmann. Sie könne ihren Mann nicht mehr allein lassen. Bruno Lambert, Jahrgang 1910, auch jüdischer Herkunft, war von Beruf Arzt. Die Nazis haben seine Familie ausgelöscht. Er starb im November 2013, ebenfalls mit 103 Jahren.
Frühjahr 2010: Das Carl-Laemmle-Gymnasium Laupheim möchte dem Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“beitreten. Anruf in New York: „Frau Bergmann, möchten Sie unsere Patin sein?“Freudig erklärt sich die 96-Jährige dazu bereit und schreibt den Schülern eine berührende Grußadresse: „Nicht sehr viele von uns, die vor so vielen Jahren Rassismus in seiner übelsten Form erlebt haben, leben heute noch. Gerade für uns ist euer Bestreben, aus dieser Welt eine bessere zu machen, besonders wichtig. Ich habe großes Vertrauen in euch.“
New York, im Februar 2014: Zu Hause, im Stadtteil Jamaica, empfängt Gretel Bergmann wenige Wochen vor ihrem 100. Geburtstag den Reporter der „Schwäbischen Zeitung“. Der Geist der Jahrhundertzeugin ist wach, ihr Humor unverwüstlich wie eh und je, das Interesse am Sport und an allem, was in Laupheim passiert, enorm. Drei Nachmittage lang erzählt sie aus ihrem Leben. Wie es war, nach Hitlers Machtergreifung 1933 über Nacht von ihrem damaligen Verein, dem Ulmer FV, verstoßen zu werden – Juden unerwünscht. Wie sie als Olympia-Kandidatin den „arischen“Konkurrentinnen zeigen wollte, wozu eine Jüdin imstande ist. Wie bestürzt sie war zu erleben, dass Rassendiskriminierung auch in den USA allgegenwärtig ist. „Eines Tages in den 1950er-Jahren“, berichtet sie, „zog ein paar Häuser weiter ein schwarzer, hochgebildeter Mann ein. Die Nachbarn haben sich das Maul zerrissen. Das könne ja wohl nicht angehen, sagten sie. Da haben Bruno und ich eine Party für die Nachbarn gegeben, mit unserem neuen Freund als Überraschungsgast. Die haben vielleicht ein Gesicht gemacht!“
Laupheim, 12. April 2014: 300 Menschen stoßen bei einer Feier auf die Hundertjährige an. Bürgermeister Rainer Kapellen gibt bekannt, dass der Gemeinderat der Jubilarin die Bürgermedaille der Stadt Laupheim zuerkannt hat. Er wird sie ihr persönlich in New York überreichen. Die Ehrung könne erlittenes Unrecht nicht ungeschehen machen, sagt Kapellen. Gewürdigt werden solle aber Gretel Bergmanns Bereitschaft, sich den Ängsten der Vergangenheit zu stellen und sich zu versöhnen. „Auf diesem Weg sollten wir alle gemeinsam in die Zukunft gehen und Intoleranz und Diskriminierungen zur Seite fegen.“
Bekannt wird am selben Tag, dass im Berliner Olympiapark eine bisher namenlose Straße nach Gretel Bergmann benannt wird. An dieser Straße liegt die Villa, in welcher der Reichssportführer von Tschammer und Osten residierte, der die Sportlerin 1936 ausgebootet hat. Eine späte Genugtuung.
Anruf bei der Jubilarin. Sie erhält Körbe voller Post aus aller Welt und hat eine Bitte: „Sag allen in Laupheim: Ich liebe euch.“