Kafkaeskul und groteskul
Saša Stanišic und Isabelle Lehn lesen im Rathaus aus ihren preisgekrönten Büchern
AALEN - Der Festakt zur Schubart-Literaturpreisverleihung in der Stadthalle am Samstagabend scheint Lust gemacht zu haben auf mehr. „So voll war das Rathaus selten“, staunte Oberbürgermeister Thilo Rentschler am Sonntagvormittag im Kleinen Sitzungssaal „beim zweiten Akt des literarischen Wochenendes“, während dienstbare Geister eilig weitere Sitzgelegenheiten heranschafften. Weit mehr Zuhörer als der Raum fassen konnte, wollten die Lesung der beiden Preisträger Saša Stanišic und Isabelle Lehn erleben. Denn das war’s: ein Erlebnis.
Der irische Schriftsteller Flann O'Brien hat mal geschrieben: „Ein befriedigender Roman muss offensichtlich Lug und Trug sein, dem der Leser nach Belieben den Grad seiner Gutgläubigkeit angleichen kann.“Dieser Satz ist zwar noch älter als der mittlerweile 60-jährige Schubart-Literaturpreis, passt aber wie maßgeschneidert auf „Fallensteller“von Stanišic und „Binde zwei Vögel zusammen“von Lehn. Beide beherrschen das Spiel mit Lug und Trug, mit Schein und Sein, mit Wirklichkeit und Fiktion – wenn auch mit unterschiedlichen Werkzeugen.
Zum Beispiel Lehn. In ihrem Buch „Binde zwei Vögel zusammen“lässt sich der arbeitslose Journalist Albert Jacobi auf ein seltsames Spiel ein: In einem bayerischen Trainingscamp für Afghanistansoldaten soll er, quasi als Staffage, den Cafébesitzer Aladdin spielen, auf dass der Krieg eine menschliche Note bekomme. Das Buch beginnt mit einem Schuss und endet mit einer Grenzüberschreitung. Jacobi verliert nach und nach den Bezug zur Realität, verschwindet schließlich ganz. Es gibt nur noch Aladdin, der unter dem Deckmantel von Jacobis Namen dem Flüchtlingslager entflieht. Jacobi und Aladdin sind die beiden Vögel, die zusammengebunden sind.
Lehn liest fast ein wenig zu artig aus ihrem Buch, arbeitet sich in wenigen Auszügen vor bis zu dem Punkt, „an dem es zu kippen beginnt“. Ihre Sprache und ihr Vortrag sind atmosphärisch dicht, lassen den „Flashback aus dem Hinterhalt“zutage treten. Hier kann jeder den Flüchtling in sich selbst kennenlernen. Nicht umsonst ist ihr Buch allen „displaced persons“, allen heimatlosen Menschen, gewidmet.
Der Mann ist ein Vulkan
Ganz anders Stanišic. Der Mann ist ein Vulkan, lässt beim Sprechen seinen Händen und seiner Fantasie gleichermaßen freien Lauf. Mehrmals bekommt das Mikrofon vor seiner Nase derbe Schläge ab. Er quittiert’s mit einem Lächeln. Aus seinen acht Erzählungen in „Fallensteller“hat er zwei ausgewählt: „Georg Horvath ist verstimmt“und „It’s okay. It’s also not okay“, im Mittelpunkt ein, ja, lebensüberdrüssiger 50-jähriger Justiziar, der sich mitten im Schnittpunkt gleich mehrerer Lebenskrisen befindet. Am meisten hadert er mit seiner Sprachkrise, er vertraut ihr nicht mehr, der Sprache – und ist schlecht gelaunt.
Die ganze Lesung über wird nicht ganz klar, ob Stanišic liest, frei vorträgt oder gar improvisiert. Wie ein geschickter Poetry-Slammer nutzt er den Rhythmus der Sprache, geht mit dem ganzen Körper mit, fuchtelt, winkt, zeigt mit dem Finger ins Publikum, streut hin und wieder Sätze ein, die nun wirklich nichts mit seiner Geschichte zu tun haben.
In der kommen übrigens zwei Worte vor, die Stanišics Schreibe ganz gut umreißen: „kafkaeskul“und „groteskul“. Stanišics Geschichten sind fantastisch im doppelten Wortsinn, er ist eben ein literarischer Fallensteller, mit Mut, Witz, Lug und Trug. Oder, um auf Flann O’Brien zurückzukommen: Den Grad der Gutgläubigkeit darf jeder Zuhörer selbst bestimmen.