Der Borderliner des Snooker verliert sich in ein bizarres Duell
Bei der WM in Sheffield kämpft Ronnie O’Sullivan auch gegen den Boss der World Snooker Organisation, Barry Hearn
Die Snooker-Weltmeisterschaft im englischen Sheffield wird von einem Skandal überschattet: Der fünfmalige Champion Ronnie O’Sullivan klagt die World Snooker Organisation an, ihn bedroht und eingeschüchtert zu haben. Deren Chef Barry Hearn weist die Anschuldigung zurück, andere Spieler sind geteilter Meinung.
Der Knall ereignete sich nach O’Sullivans unspektakulärem Erstrundenmatch in den Katakomben des ehrwürdigen Crucible Theatres, seit 40 Jahren Austragungsort der WM des Billard-Ablegers. O’Sullivan erklärte, er habe Barry Hearn angerufen und dem allmächtigen Boss erklärt, er sei „mit ihm und seiner Organisation durch“und lasse sich nicht länger tyrannisieren. Ursache war ein Brief: World Snooker hatte O’Sullivan verwarnt – „The Rocket“, so sein Spitzname in der Szene, habe beim Masters-Turnier Anfang des Jahres einen Schiedsrichter öffentlich kritisiert und einen Pressefotografen als „Scheiß-Alptraum“beleidigt, weil der ihn während eines Spiels gestört habe.
In den folgenden Wochen reagierte O’Sullivan, nun ja, seltsam. Er gab in Interviews buchstäblich einsilbige Antworten, in einem anderen Gespräch imitierte er einen Roboter, dann wieder sang er „Wonderwall“von Oasis – nachzuschauen auf Youtube. Da war er also wieder, der Borderliner des Snooker: manchmal genial, dann wieder verstörend und unberechenbar, auf jeden Fall polarisierend. Sein Vater saß wegen Mordes im Gefängnis, er selber war alkoholkrank und musste wegen Depressionen schon mehrfach aussetzen. Mal scheidet er in der ersten Runde aus, dann wieder gewinnt er souverän Turniere, zuletzt, im Januar dieses Jahres, eben jenes Masters in London.
Genau dafür liebt ihn die Szene aber auch – kaum ein anderer Spieler wird so mit Snooker identifiziert wie der 41-jährige Engländer. Deshalb tun sich Verband wie Mitspieler auch schwer mit ihm: Ex-Weltmeister Shaun Murphy kritisiert die Tirade und sagte, O’Sullivan liege „total falsch“, John Higgins, ebenfalls ehemaliger Champion, hat Verständnis und verweist auf den Druck, der seit Jahren auf seinem Konkurrenten laste, der so viel für den Sport getan habe – jedes Turnier gewinnt, wenn O’Sullivan gemeldet hat. World-SnookerChef Barry Hearn, Alphatier auch er, will die „unbegründeten Anschuldigungen“nicht auf sich sitzen lassen. Sie „beschädigen das Ansehen des Snookersports auf der ganzen Welt – und mein eigenes.“Derzeit rasen die zwei Züge weiter aufeinander zu: Hearn will nicht einlenken, O’Sullivan hat den Fall seinen Anwälten übergeben, die ihm sein Kumpel, Kunst-Superstar Damien Hirst, stellt – und will ganz aus dem Sport aussteigen, wenn er mit einer Sperre belegt wird: „Ich könnte auch ins Dschungelcamp gehen ... Ich liebe, was ich tue, aber wenn Leute mich mobben, habe ich das nicht nötig“, zitiert ihn der „Guardian“. Gleichzeitig hofft er, irgendwie kleinlaut, auf eine „sensible Lösung“des Streits.
Die Snookerwelt erzittert also unter dem Krach. Dabei gibt es genügend positive Meldungen von der WM: Sie findet seit 90 Jahren statt und feiert das Jubiläum mit einer Verlängerung des Crucible-Vertrags um weitere zehn Jahre; das Preisgeld liegt erstmals über der Zwei-MillionenEuro-Grenze, allein der Sieger kassiert fast 440 000 Euro. Sportlich hat es bereits einige Überraschungen gegeben, allen voran das ErstrundenAus von Favorit Judd Trump und die Aufholjagd von Marco Fu aus Hongkong, der gegen den Belgier Luca Brecel mit 2:7 hinten lag und am Ende mit 10:9 gewann.
Und selbst Ronnie O’Sullivan könnte ein schönes Jubiläum feiern: Vor 20 Jahren gelang ihm das schnellste Maximum-Break aller Zeiten: Alle Kugeln in der vorgesehenen Reihenfolge mit der Maximalzahl von 147 Punkten in nur 5.20 Minuten versenkt – eine einmalige Show, die zeigt, welch großer Könner er ist. Wenn er sich aufs Sportliche konzentriert und nicht in bizarre Duelle verliert.