„In hundert Jahren noch gelesen werden“
“Etre encore lue dans cent ans”
L’écrivaine autrichienne Raphaela Edelbauer nous parle de “Terre liquide”, sélectionné pour le Prix du livre allemand 2019
„Jeder hat alternative Wahrheiten für sein Leben. Was passiert ist, ist, was uns erzählt wird, dass passiert ist.“
L’Autrichienne Raphaela Edelbauer a fait partie de la sélection restreinte pour le Prix du livre allemand en 2019. A l’occasion de la sortie en France de son roman « Terre liquide » aux éditions Globe, la jeune autrice de 29 ans nous parle de son amour pour l’écriture, de ses figures littéraires très personnelles, de son rapport à la science et de son rêve de passer à la postérité.
Die Presse: Ihrer Roman spielt in der rätselhaften Gemeinde Groß-Einland, unter der ein riesiges Loch klafft, das mit einem vertuschten NS-Verbrechen in Verbindung steht. Was steckt hinter diesem Ort?
Raphaela Edelbauer: Es ist eine Montage aus österreichischen Gemeinden. Attnang-Puchheim mit seiner Zerbombungsgeschichte. Melk, das auch ein Bergwerk hatte, wo, als die Alliierten vor der Tür standen, noch ein schneller Massenmord passiert ist. Die Hinterbrühl, die auch so ein einsinkendes Fundament hat, war eine der wichtigsten Inspirationen. Meine Mutter ist Lokaljournalistin, sie verfolgt das seit Jahren. Das hat mich total fasziniert, als plötzlich ein Stück vom Asphalt weg war. In Gießhübl, der Nebenortschaft, wurde einmal ein Traktor verschluckt. Es stecken ganz viele Heimathistorikersachen drin. Im Innenministerium gibt’s ein Archiv, da habe ich mir Prozessakten rausgesucht.
Ganz viel davon wartet aber noch auf Aufarbeitung.
2. Die Presse: Die Hauptfigur, Ruth, ist eine unzuverlässige Erzählerin, man traut ihr nicht ganz.
Edelbauer: Das ist das Wesentliche: Die Leute haben sich ihre eigene Version der Geschichte zurechtgelegt. Die einen haben gesagt, sie waren da, die anderen dort; ein SS-Mann, der eine Massentötung angeordnet hat, hat gesagt, ihm war schlecht an dem Tag. Jeder hat irgendeine Ausflucht, jeder hat alternative Wahrheiten für sein Leben. Was passiert ist, ist, was uns erzählt wird, dass passiert ist.
3. Die Presse: Dazwischen sind wissenschaftlich anmutende Texte über Zeitkapseln und Schwarze Löcher eingestreut. Haben Sie sich tatsächlich mit den Theorien beschäftigt?
Edelbauer: Einem studierten Physiker, der das liest, würde es die Haare aufstellen. Aber ich beschäftige mich tatsächlich permanent mit Wissenschaft. Schon in meinem ersten Werk, „Entdecker“, war meine Behauptung: Unser Universum ist aus Sprache gebaut. Das spinne ich weiter, das wird etwas sein, das in meinem Werk immer wieder vorkommen wird.
4. Die Presse: In „Das flüssige Land“liest man von schwappenden Land- und Menschenmassen, sich aufblähenden Straßen.
Edelbauer: Was ich sehr gern mache: Ich überlege mir eine Metapher, zum Beispiel Wellenbewegungen bei geologischen Aktivitäten. Dann verfolge ich diese Metapher konsequent. Ich recherchiere auf Wikipedia,
lese Fachartikel, hole mir die Begrifflichkeiten heraus und schaue, wie ich sie in einer möglichst poetischen Form übertragen kann. Da kommen meist sehr unorthodoxe Sachen heraus. Ich stehe total darauf, solche Methoden zu entwickeln und zu perfektionieren. Mein nächstes Buch, „DAVE“, handelt von künstlicher Intelligenz, von einem Computer, der sich seiner selbst bewusst wird, und hat einen ganz anderen Aufbau.
5. Die Presse: Und neue sprachliche Methoden?
Edelbauer: Absolut. Eines meiner Lieblingsgebiete der Geisteswissenschaft ist die Mnemotechnik: die Art, wie man sich Dinge merkt. Da gibt es diese Methode, bei der man Bilder, die Erinnerungsinhalte repräsentieren, in Räumen ablegt. Ich mache das als Gedächtnissport. Es ist ein Modus größter Verdichtung.
6. Die Presse: Was kommt zuerst, die Handlung oder die sprachliche Idee?
Edelbauer: Die sprachliche Idee, dazu suche ich eine Handlung. Ich glaube nicht, dass es viele Autoren so machen. Ich schreibe acht Stunden am Tag. Das ist, was ich am liebsten mache. Ich führe ein Arbeitsjournal, ich schreibe sieben Tage die Woche, seit ich 15 bin.
7. Die Presse: Was treibt Sie beim Schreiben an?
Edelbauer: Mein Ziel war immer, eine Tradition fortzusetzen, und auch für die Autoren, die in 50 Jahren schreiben werden, die Rolle zu haben, die für mich jetzt andere Autoren haben. Das ist ein Menschheitsprojekt, das kann nicht funktionieren, wenn man immer nur für den schnellen Erfolg schreibt. Mein Anspruch ist schon, dass ich in hundert Jahren noch gelesen werde. Wenn man wirklich zeitgenössisch schreibt, dann schreibt man, wie noch niemand zuvor geschrieben hat. Ich habe natürlich Vorbilder, die kann ich ganz präzise nennen – ich liebe die Dialoge von Kafka, dieses leichte Aneinander-vorbei-Reden, davon bin ich sehr geprägt. Mein Ziel ist aber, vorrangig aus mir selber zu schöpfen – und es nicht so zu machen, wie es irgendwer anderer gemacht hat. Das sind hohe Ansprüche. Ob ich ihnen gerecht werden kann, kann nur die Zeit zeigen.
die Menschheit l’humanité / der Anspruch(¨e) l’ambition / zeitgenössisch de façon actuelle / zuvor auparavant / das Vorbild(er) le modèle / das Aneinander-vorbei-Reden le dialogue de sourds / von … geprägt sein être marqué, influencé par … / vorrangig prioritairement / aus … schöpfen puiser dans/en … / irgendwer anderer quiconque d’autre / einer Sache gerecht werden être à la hauteur de qqch.
1. spielen se dérouler / rätselhaft mystérieux / die Gemeinde la commune / riesig énorme / das Loch(¨er) le trou / klaffen être béant / mit … in Verbindung stehen être en lien avec qqch / vertuscht dissimulé, étouffé / das NS-Verbrechen le crime nazi / hinter etw stecken se cacher derrière qqch / der Ort(e) l’endroit, le village / die Zerbombung le bombardement / das Bergwerk(e) la mine / vor der Tür stehen être à la porte / der Massenmord(e) le massacre collectif / einsinkend qui s’enfonce, s’effondre / das Fundament les fondations, le sous-sol / verfolgen suivre / das Stück le morceau / weg sein être parti, disparu / die Nebenortschaft la localité voisine / verschlucken engloutir / in … stecken y avoir dans … / der Heimathistoriker l’historien local / die Sache le truc / das Innenministerium le ministère de l’Intérieur / sich etw raus-suchen rechercher qqch / die Pozessakten le dossier d’un procès / auf Aufarbeitung warten attendre d’être traité.
2. die Hauptfigur(en) le personnage principal / unzuverlässig peu fiable, crédible / jdm trauen faire confiance à qqn / das Wesentliche l’essentiel / sich etw zurecht-legen se construire, s’inventer qqch / die Massentötung le massacre collectif / an-ordnen ordonner / mir ist schlecht je suis malade / irgendein quelconque / die Ausflucht l’excuse / die Wahrheit la vérité.
3. dazwischen au milieu de tout cela / wissenschaftlich anmutend d’aspect scientifique / die Zeitkapsel(n) la capsule temporelle / das Schwarze(n) Loch(¨er) le trou noir / ein-streuen parsemer / sich mit etw beschäftigen s’intéresser à qqch / tatsächlich effectivement, réellement / der studierte Physiker le physicien diplômé / jdm die Haare auf-stellen faire dresser les cheveux sur la tête de qqn / das Werk(e) l’oeuvre / die Behauptung l’affirmation, le postulat / die Sprache le langage / weiter-spinnen développer un raisonnement / immer wieder régulièrement / vor-kommen se produire, arriver.
4. Das flüssige Land Terre liquide / schwappen déborder / sich auf-blähen gonfler, se soulever / die Wellenbewegung le mouvement des vagues / konsequent de manière cohérente /
der Fachartikel(-) l’article spécialisé / sich etw heraus-holen extraire qqch / die Begrifflichkeit la terminologie / schauen regarder / möglichst … le plus … possible / übertragen(u,a,ä) transposer / meist généralement / sehr unorthodox très peu orthodoxe / heraus-kommen en sortir / darauf stehen être fan de, adorer / entwickeln développer / von … handeln traiter de … / die künstliche Intelligenz l’intelligence artificielle / sich seiner selbst bewusst sein avoir conscience de soi-même / der Aufbau la structure, la construction.
5. sprachlich linguistique / das Lieblingsgebiet(e) le domaine de prédilection / die Geisteswissenschaft les sciences humaines / die Art, wie la façon dont / sich etw merken retenir qqch / der Erinnerungsinhalt(e) le contenu de la mémoire / der Raum(¨e) la pièce / ab-legen ranger / der Gedächtnissport le sport de mémoire / die Verdichtung la condensation, le compactage.
6. zuerst en premier / die Handlung l’intrigue / ein Journal führen tenir un journal / sieben Tage die Woche sept jours sur sept.
7. an-treiben(ie,ie) pousser / das Ziel(e) l’objectif / fort-setzen poursuivre /