Auf eigenen Wegen
Aix-la-Chapelle – Téhéran : 5000 km à pied à la recherche de ses racines.
Qu’est-ce qui pousse un Iranien d’Allemagne à parcourir 5000 km à pied, d’Aix-la-Chapelle à Téhéran, avec pour seul compagnon de route une roue acrobatique ? A la rencontre des autres et surtout de lui-même Shahin Tivay Sadatolhosseini, tel un escargot avec sa maison sur le dos, conte sa recherche du temps perdu.
Sieht man Shahin Tivay Sadatolhosseini an, seine zur Seite gezwirbelten grauen, krausen Koteletten und seine bunten Klamotten, muss man an Krusty, den Clown aus den „Simpsons“, denken. Aber wenn man sieht, was Sadatolhosseini den ganze Tag über tut, denkt man eher an Sisyphos.
2. Denn Sadatolhosseini verbringt derzeit die meisten seiner Tage damit, ein zwei Meter hohes und 100 Kilogramm schweres Stahlrad vor sich herzurollen. Ein kräftiger Schubs, das Rad rollt etwa sieben Meter, Sadatolhosseini schreitet hinterher, dann wieder ein kräftiger Schubs.
3. So geht das seit etwa 5000 Kilometern. Seit Sadatolhosseini im Dezember 2015 Aachen verlassen hat, um nach Iran zu wandern. Aachen ist seine Heimat gewesen die letzten 30 Jahre, Teheran die Heimat 1. an-sehen regarder / zur Seite sur le côté / zwirbeln tortiller / kraus frisé / die Koteletten les favoris / bunt coloré / die Klamotten les fringues / den ganzen Tag über toute la journée / eher plutôt. 2. das Stahlrad(¨er) la roue d’acier / vor sich her-rollen faire rouler devant soi / kräftig puissant / der Schubs(e) la poussée, l’impulsion / etwa à peu près / hinterherschreiten(i,i) suivre (en marchant) / wieder à nouveau. 3. Aachen Aix-la-Chapelle / verlassen(ie,a,ä) quitter / nach … wandern marcher jusqu’à … / seiner Kindheit. Er sei ein „Öcher Perser“, sagt Sadatolhosseini, ganz so, wie man es im dortigen Dialekt sagen würde – ein Aachner Perser.
NACH 30 JAHREN IN DEUTSCHLAND
4. Sadatolhosseinis Rad ist ein Rhönrad. Ein Sportgerät, das 1925 in Deutschland erfunden wurde und mit dem Artisten elegante Choreographien auf die Bühne bringen. Sie turnen in dem Rad, rollen damit, lassen es kreisen. Auch Sadatolhosseini kann das. Er ist für Iran bei den Weltmeisterschaften angetreten, hat als Organisator die WM 2015 nach Deutschland geholt und ist an der Uni Aachen Dozent für Rhönrad-Turnen.
5. „Das Rhönrad hat mir Halt gegeben“, sagt Sadatolhosseini. Er hat es erst in Aachen kennengelernt. Nachdem er mit 13 Jahren vor dem Iran-Irak-Krieg nach Deutschland geflohen war. Mit seiner Mutter, aber ohne Freunde und kaum einem Wort der deutschen Sprache. Und es hat ihn während seines Lebens in Deutschland begleitet. Während er als Fotograf arbeitete, während er Design studierte, während er seine ersten Ideen als Aktionskünstler umsetzte, während seiner Zeit als freier Designer.
6. Und nun, wo Sadatolhosseini 46 Jahre alt ist, begleitet es ihn deswegen auch nach Teheran. Die Stadt seiner Kindheit. Es ist
die Kindheit l’enfance / dortig local / der Perser le Perse. 4. das Rhönrad(¨er) la roue allemande (à deux anneaux), la roue acrobatique / das Sportgerät(e) l’agrès / erfinden(a,u) inventer / die Bühne la scène / turnen faire de la gymnastique, des acrobaties / kreisen effecuer des cercles, tourner / die Weltmeisterschaft(en) = WM le championnat du monde / für jdn bei … an-treten(a,e,i) représenter qqn à … / der Dozent le professeur. 5. jdm Halt geben être un soutien pour qqn / vor einer Sache fliehen(o,o) fuir qqch / begleiten accompagner / der Aktionskünstler l’artiste de performance / um-setzen réaliser / frei indépendant. 6. deswegen par conséquent / das erste Mal, dass er sie wiedersehen wird. Erst konnte er nicht zurück, weil er noch ein Junge war. Später nicht, weil er ein Mann war und zum Militärdienst eingezogen worden wäre. Als die Gefahr überstanden war, hat es sich nie so recht ergeben. Lange nicht. So sind nun 30 Jahre vergangen.
ÜBERNACHTEN IM SCHNECKENHAUS
7. Gemeinsam bewältigen Sadatolhosseini und sein Rad am Tag etwa 20 Kilometer. Manchmal auch 40. Manchmal verlaufen sie sich, dann müssen sie alles wieder zurück. In Deutschland ging es anfangs durch Eis und Schnee. In Serbien durch Hitze und Staub. In Bulgarien mussten sie auf der Landstraße neben Lastwagen rollen. In Istanbul vierspurige Stadtautobahnen überqueren.
8. Sadatolhosseini kann in seinem Rhönrad auch schlafen. Dann spannt er eine Hängematte in das Rad und eine Plane darüber. „Mein Schneckenhaus“, nennt er das. Ein Bild, das ihm gut gefällt, denn die Schnecke, die so langsam reist, ist sein Lieblingstier. Ein „weises Tier“, das sich nicht hetzen lässt.
9. Das Schneckenhaus wäre also eine Option für diese letzte Nacht in Georgien. Aber auch für sein Schneckenhaus
zurück können pouvoir revenir / zum Militärdienst ein-ziehen(o,o) incorporer au service militaire / die Gefahr(en) le danger / überstehen surmonter, écarter / es hat sich nicht ergeben l’occasion ne s’est pas présentée / vergehen passer. 7. x km bewältigen couvrir x km / ich verlaufen se tromper de chemin / alles wieder zurück müssen devoir refaire tout le chemin à l’envers / das Eis la glace / die Hitze la chaleur / der Staub la poussière / die Landstraße la route nationale / der Lastwagen le camion / vierspurig à quatre voies / überqueren traverser. 8. spannen tendre / die Hängematte le hamac / die Plane la bâche / die Schnecke l’escargot / jdm gefallen(ie,a,ä) plaire à qqn / das Lieblingstier l’animal préféré / weise sage / hetzen presser.
braucht er einen geschützten Platz, schließlich sind auch seine Sachen an dem Rad angebracht. Er hat sie in zwei Bündel geschnürt. Ein leichtes von etwa 15 Kilogramm und ein schweres von 40. Das eine ist sein „Keller“, mit den Sachen, die er gerade nicht braucht, Winterklamotten zum Beispiel oder der Laptop, mit dem er seine Fotos bearbeitet, das andere sein Handgepäck. So muss er nicht immer alles aufschnüren, und die unterschiedliche Größe hilft ihm auch beim Reisen. Wie bei einem Wankelmotor zieht das schwere Gewicht das Rad vorwärts. Zumindest sieben Meter weit. Genannt hat er es Rocinante – so wie Don Quichotte sein Pferd. Und vielleicht sind 30 Jahre auch einfach zu lang, um in ein Flugzeug zu steigen, als sei nichts gewesen.
10. Und doch ist er auf der Straße bloß ein Reisender. Einer, der heute Abend in Gardabani einen Platz für sich und sein Rad braucht. Und zwar möglichst einen kostenlosen, denn das Budget speist sich vor allem aus Erspartem. Also entweder die Stadt rechtzeitig verlassen, um zu zelten. Oder eingeladen werden. „Das geht aber nur, solange es hell ist“, sagt Sadatolhosseini. Denn dann sind die Leute aufgeschlossen und hilfsbereit. Sehr oft hat er das auf seiner Reise schon erfahren. Auch der Zufall hat seine Regeln.
ZEIT FÜR SELBSTERKENNTNIS
11. Überhaupt: die Möglichkeit, so viel über sich selbst zu lernen. Wie man die Extreme aushält – Kälte, Nässe, Hitze, Entkräftung, Frust. Was einem wichtig ist (Zeit), was nicht (Geld) und wie viele Besitztümer man wirklich braucht. „Ich habe mich zum 9. geschützt protégé, à l’abri / die Sachen les affaires / … an etw an-bringen fixer qqch à … / das Bündel(-) le paquet / schnüren ficeler / der Keller la cave / gerade pour le moment / der Laptop(s) l’ordinateur portable / bearbeiten travailler, traiter / das Handgepäck le bagage à main / auf-schnüren détacher, défaire / die Größe la taille / der Wankelmotor le moteur Wankel, (à piston) rotatif / 7 Meter weit vorwärts-ziehen(o,o) faire avancer de 7 mètres / das Gewicht le poids / zumindest au moins / in … steigen(ie,ie) monter dans … / als sei nichts gewesen comme si de rien n’était. 10. bloß simplement / und zwar à savoir / möglichst si possible / sich aus … speisen puiser dans … / das Ersparte les économies / rechtzeitig à temps / zelten camper (en tente) / jdn ein-laden(u,a,ä) inviter qqn / es ist hell il fait clair, jour / aufgeschlossen sein être ouvert / hilfsbereit sein être serviable / etw erfahren faire l’expérience de qqch / der Zufall(¨e) le hasard. 11. überhaupt en général / aus-halten(ie,a,ä) supporter / die Nässe l’humidité / die Entkräftung l’épuisement / der Frust la frustration / einer vous / das Besitztum(¨er) la possession / sich für … halten(ie,a,ä) se considérer comme … / Beispiel für einen unheimlich ökologischen Menschen gehalten“, sagt Sadatolhosseini. „Aber dann habe ich festgestellt, dass ich mich zu 90 Prozent nicht an meinen eigenen Kodex halte.“
12. Sadatolhosseini hört oft: „Gefährlich sind immer die anderen“. Das Vertrauen in die Mitmenschen endet meist an der nächsten Landes-, Sprach- oder Religionsgrenze. Aber wenn man dann über diese Grenzen hinwegrollt, sieht es dort genauso freundlich aus. 13. Am Anfang der Reise hat Sadatolhosseini viel mehr geplant. Auch die Strecke. „Ich war die ersten drei Monate noch in dieser zielstrebigen deutschen Denkstruktur. Ich musste pro Tag 25 Kilometer machen, sonst hatte ich meine Tagesroute nicht geschafft.“Mit der Zeit kam er zu der Einsicht, dass es okay ist, wenn er an einem schlechten Tag eben nur die 15 Kilometer geht und an einem anderen die 40. „Man muss Ziele haben. Und die muss man auch erreichen, aber man muss auch schauen, was der Tag einem für Möglichkeiten anbietet.“
14. Und so endet der Abend für Sadatolhosseini und Rocinante in einem alten, abgewohnten georgischen Bauernhof, der einem evangelikalen türkischen Pfarrer gehört. Draußen Plumsklo, Hühner und Karnickel, drinnen ein Tisch, schwer beladen mit Schokoladencremekuchen, Bananen, Äpfeln und Baklava. Auf dem Gasofen unheimlich extrêmement / fest-stellen constater / sich an etw halten(ie,a,ä) respecter qqch. 12. das Vertrauen la confiance / der Mitmensch(en) le semblable / an …(dat.) enden s’arrêter à … / nächst≈ plus proche, premier / die Grenze la frontière / über … hinweg-rollen passer … (en roulant) / genauso tout aussi / freundlich aus-sehen paraître accueillant. 13. planen planifier / die Strecke le parcours / zielstrebig déterminé, axé sur les résultats / etw geschafft haben avoir accompli qqch / die Einsicht la prise de conscience / erreichen atteindre / schauen voir. 14. abgewohnt délabré / der Bauernhof(¨e) la ferme / der Pfarrer le pasteur / das Plumpsklo(s) les cabinets rudimentaires / das Huhn(¨er) la poule / das Karnickel(-) le lapin / drinnen à l’intérieur / schwer beladen mit croulant sous / der Kuchen le gâteau / der Gasofen le four, le poêle à gaz / in der Ecke brodelt der Tee in der zweistöckigen Teekanne, von der Tür blättert der Lack. Der junge Missionar greift zur leicht verstimmten Gitarre, Christian zur Rassel, Sadatolhosseini nimmt die Handtrommel. Später reden sie über Gott und die Welt.
IN IRAN HERZLICH WILLKOMMEN
15. Sadatolhosseinis eigener Weg wird ihn am nächsten Morgen Richtung Aserbaidschan führen. Bis zur Grenze. Als er an der großen georgischen Fahne vorbeirollt, die auf die Wand des Grenzhäuschens gemalt ist, weiß er nicht, wie lange er in Aserbaidschan bleiben wird. Er weiß nicht, dass er recht behalten wird, was die unfreundliche Polizei betrifft, und er weiß nicht, dass er sie am Ende überlisten wird. Dass er nach 20 Tagen das Land verlassen wird, wie er am Telefon und per Facebook berichtet. Er weiß nicht, dass man ihn in Iran herzlich willkommen heißen wird. Aber so wird es kommen.
16. Und dann wird er Mitte Juli Teheran erreichen. Wird das Rad vor dem Teheraner Museum für Zeitgenössische Kunst abstellen und es ihm schenken. Und frei sein von der Aufgabe. Und danach? Zum Wintersemester muss er wieder an der Uni sein, aber was sonst passiere, wisse er auch nicht, sagt Sadatolhosseini. „Ich weiß nur: Ich möchte nie wieder im Leben etwas machen, das mich mehr als zehn Minuten am Tag ärgert.“Und: wieder mit einem Rhönrad reisen. die Ecke le coin / brodeln bouillonner / zweistöckig à deux étages / die Teekanne la théière / blättern s’écailler / der Lack la peinture / zu … greifen(i,i) prendre … / verstimmt désaccordé / die Rassel(n) les maracas / die Handtrommel le djembé. 15. die Richtung la direction / an einer Sache vorbeirollen passer devant qqch / die Fahne le drapeau / das Grenzhäuschen le petit poste douanier / malen peindre / recht behalten(ie,a,ä) avoir raison / was … betrifft(a,o) en ce qui concerne … / unfreundlich peu aimable, rébarbatif / jdn überlisten berner qqn / berichten raconter / jdn herzlich willkommen heißen(ie,ei) accueillir qqn à bras ouverts. 16. die zeitgenössische Kunst l’art contemporain / ab-stellen garer, arrêter / schenken offrir / die Aufgabe la mission / danach ensuite / das Semester le semestre (dans l’enseignement supérieur, les études sont divisées en semestres, donnant lieu chacun à un flux d’entrées, à l’ouverture des listes d’attente et à une session d’examens) / ärgern agacer, embêter.
„Man lernt was wichtig ist (Zeit), was nicht (Geld).“Shahin Sadatolhosseini