EuroNews (German)

Die meisten Niederländ­er fahren jede Woche Rad. Wie haben sie das Radfahren zum nationalen Zeitvertre­ib gemacht?

- Lucy Shrimpton

Sie ziehen sich um, halten sich an den Händen, tragen ein Cello, nehmen einen Stuhl oder einen Kumpel auf Rad mit - die Liste ist endlos. Gibt es ir‐ gendetwas, das die geschickte­n Nieder‐ länder nicht auf zwei Rädern bewälti‐ gen können?

Aber auch wenn es den Anschein hat, als würden sie mit der natürliche­n Beweglichk­eit von Bienen im Bienen‐ stock Rad fahren, so muss doch hinter den Kulissen viel getan werden, um diesen Fluss zugänglich, sicher, um‐ weltfreund­lich und integrativ zu ma‐ chen.

Das können andere europäisch­e Länder von ihnen lernen.

Die besten Fahrrad-Pendelprog­ram‐ me: Frankreich, Italien oder Belgien?

Alle an Bord: Niederländ­er zei‐ gen, dass Radfahren für alle da ist

In den Niederland­en wurden zahllose Initiative­n entwickelt, um sicherzust­el‐ len, dass das Radfahren für alle zu‐ gänglich ist, nicht nur für junge Men‐ schen, die damit aufgewachs­en sind. Und wenn man bedenkt, dass 64 Pro‐ zent der Gesamtbevö­lkerung mindes‐ tens einmal pro Woche mit dem Rad fahren, scheint das zu funktionie­rt.

Das Regierungs­programm "Door‐ trappen" (Pedalieren) erleichter­t älteren Menschen das sichere Radfahren. Die Unterstütz­ung erfolgt in Form von Hilfsmitte­ln - beispielsw­eise Spiegeln für bessere Sicht - oder in Form von Tipps.

Da Untersuchu­ngen zeigen, dass die meisten Unfälle im Stand passie‐ ren, wird empfohlen, den Sattel abzu‐ senken oder einen Fahrradrah­men zu wählen, der ein einfaches Auf- und Ab‐ steigen ermöglicht.

Andere Initiative­n richten sich an Migranten, die vielleicht noch nie Rad gefahren sind. Die 'Make Way For Bikes'-Radfahrsch­ule ist ein Kurs mit 10 Unterricht­sstunden, der von der Sta‐ dt Den Haag an mehreren Gemeinde‐ zentren angeboten wird. In einem si‐ cheren Raum, in dem sie ihre Ängste überwinden können, lernen sie, ihr Gleichgewi­cht zu finden, bevor sie sich dem Verkehr stellen.

Zu den Vorteilen gehören bessere Beschäftig­ungschance­n, größere Fit‐ ness und Unabhängig­keit und sogar "eine Möglichkei­t für Eltern, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen", sagt Tes‐ sa Leferink, Expertin für nachhaltig­e urbane Mobilität, die ehrenamtli­ch am Knotenpunk­t Moerwijk arbeitet.

Städte sind die Vorreiter einer Fahr‐ radrevolut­ion. Wird die EU ihrem Bei‐ spiel folgen?

Die Niederländ­er bleiben in Sa‐ chen Fahrradsic­herheit und -in‐ frastruktu­r innovativ

In den Niederland­en treffen mehr als 37.000 km Radwege auf Kreuzungen, die darauf ausgelegt sind, die Unfall‐ zahlen so niedrig wie möglich zu hal‐ ten.

Doch das Land war nicht immer ein Utopia für Radfahrer. Wie auch anders‐ wo in Europa war die Stadtplanu­ng des zwanzigste­n Jahrhunder­ts auf den Au‐ toverkehr ausgericht­et.

Heute stellt eine Reihe von Kehrt‐ wendungen und laufenden Innovatio‐ nen das Auto in den Schatten. Ein Bei‐ spiel ist Utrecht, wo eine 11-spurige Autobahn, die einst direkt in die Stadt führte, als "Catharijne­singel" ihr Comeback feierte.

Auch auf Straßen wie dem Cartesi‐ usweg, wo vier Autospuren auf zwei reduziert wurden, und auf der Fahrrad‐ brücke Dafne Schippersb­rug, die das historisch­e Zentrum mit dem neuesten Stadtteil Leidsche Rijn verbindet, ist der Fortschrit­t spürbar.

Auch durchgehen­de Radwege für längere Strecken, die normalerwe­ise mit dem Auto zurückgele­gt werden, werden eröffnet: Utrecht-Amersfoort ist der erste von neun langen Radwe‐ gen in der Provinz Utrecht, der einge‐ weiht wurde.

Intermodal­ität - die Nutzung von mehr als einem Verkehrsmi­ttel für eine Reise - ist ebenfalls ein wichtiger Fak‐ tor für die Entwicklun­g des Radver‐ kehrs.

Dank bemerkensw­erter digitaler Effizienz in den Fahrradabs­tellanlage­n der unterirdis­chen Bahnhöfe ("Fietsen‐ stallings") werden Reisende, die mit dem Intercity-Zug unterwegs sind, da‐ zu ermutigt, ihr Fahrrad am Bahnhof abzustelle­n, den Zug zu nehmen und am Zielort ein OV-Fiets-Fahrrad zu mieten. 180 Fahrräder pro Minute kön‐ nen in Utrecht Centraal fietsensta­lling einfahren.

Dies ist ein Gewinn für beide Sei‐ ten, da die Bürgerstei­ge nicht mehr so häufig mit vorgesperr­ten Fahrrädern überschwem­mt werden.

Auch die Erziehung spielt eine Rol‐ le bei der Sicherheit, da gute Praktiken in der Kindheit ein Leben lang zu nachhaltig­en Fahrten führen. Nach der Vorbereitu­ng mit digitalen Spielen, Vi‐ deos und Karten können Kinder in nie‐ derländisc­hen Grundschul­en im Rah‐ men des Fietsexame­n-Programms eine praktische Radfahrprü­fung ablegen, um sie für mehr Unabhängig­keit in der Sekundarst­ufe zu qualifizie­ren.

Die Niederland­e sind eher daran gewöhnt, Fachwissen über das Radfah‐ ren zu exportiere­n als zu importiere­n erst kürzlich wurden sie für ihr KITool, das eine Vision der Fahrrad‐ freundlich­keit auf jede Straße der Welt überträgt, für den Webby Award nomi‐ niert. Aber die Niederländ­er sind nicht abgeneigt, den einen oder anderen Trick von anderen Nationen zu lernen.

Beter goed gejat dan slecht be‐ dacht" (besser gut gestohlen als schlecht erfunden), könnte ein Nieder‐ länder gesagt haben, als sie deutsche "Fietsstrat­en" (Fahrradstr­aßen) nach‐ bauten, auf denen Autos zu Gast sind.

Obwohl Umweltschü­tzer befürch‐ ten, dass die neue rechtsgeri­chtete nie‐ derländisc­he Regierung das Land in Sachen Klimaschut­z zurückwerf­en wird, liegen die meisten Ressourcen und Entscheidu­ngsbefugni­sse im Be‐ reich Radverkehr bei den lokalen Be‐ hörden.

Peloton Power: Die Niederlän‐ der wissen, dass Radfahren in der Freizeit das körperlich­e und geistige Wohlbefind­en steigert

Fahrräder sind nicht nur für den funk‐ tionalen Arbeits- oder Schulweg ge‐ dacht. Wenn das Radfahren zum Ver‐ gnügen wird, haben die Niederländ­er herausgefu­nden, und wenn es mit Kul‐ tur, Sport und Gemeinscha­ft verbunden wird, können die Pedale auch direkt das Herz ansprechen.

Fragen Sie einfach den radelnden Bürgermeis­ter von Den Haag, Remco de Rijk, nach seinen geselligen Treffen. Als Vermittler zwischen den Radfah‐ rern auf der Straße und den politische­n Entscheidu­ngsträgern bringen seine monatliche­n Fietszwerm-Veranstalt­un‐ gen ("Fahrradsch­warm") alle Einheimi‐ schen zu einer Fahrradtou­r mit Festi‐ valcharakt­er zusammen - Rad-GutWohlfüh­len in Aktion.

Radfahren für den Sport spielt auch eine wichtige Rolle bei der Förderung einer positiven Fahrradkul­tur in den Niederland­en.

Utrecht, das für seine hervorrage­n‐ den Strategien zur Förderung des öf‐ fentlichen Engagement­s ausgewählt wurde, war bereits Gastgeber für alle Grand Tours (Giro d'Italia, Tour de France und Vuelta). Am 12. August werden Rotterdam und Den Haag im Mittelpunk­t der ersten Etappe der Tour de France Femmes der Frauen stehen.

"Das Rennen wird durch Wohnge‐ biete führen, in denen wenig Radver‐ kehr herrscht", erklärt Lidy Münning‐ hoff vom lokalen Rennverein Kek. "Das Ziel ist es, den Frauen zu zeigen, dass auch sie Rennen fahren können."

Unterdesse­n werden die Herzen der Nation immer gesünder, je mehr das Radfahren angenommen wird. "Wir sind immer auf der Suche nach blinden Flecken und nach Möglichkei­ten, das Radfahren zu fördern", sagt Ernest van den Bemd, der Super-Netzwerker der Utrechter Bike Community.

Er macht sich die Energie des Rad‐ fahrens auf jede erdenklich­e Weise zu‐ nutze, z. B. indem er bei Networking­Veranstalt­ungen die Köpfe von Medizi‐ nern zusammenst­eckt (natürlich auf Fahrrädern) - angesichts der überwälti‐ gend positiven Korrelatio­n zwischen Radfahren und gesundheit­lichen Vor‐ teilen.

Fahrrad recyceln: Die Nieder‐ länder ermutigen ihre Bürger zum Reparieren, nicht zum Er‐ setzen

In den Niederland­en gibt es bekannt‐ lich mehr Fahrräder als Menschen, und manchmal geraten diese aus dem Ru‐ der - und Tausende von Rädern finden ihren Weg in die berühmten Wasser‐ straßen der Niederland­e.

Um das Problem der Fahrradsup­pe zu vermeiden, vermitteln zahlreiche In‐ itiativen die Botschaft, dass es besser ist, das eigene Fahrrad zu warten, als es aufzugeben und ein neues zu kau‐ fen.

Die Gemeinde Den Haag sammelt Tausende von überflüssi­gen Fahrrädern ein, um sie aufzuberei­ten und an Kin‐ der zu verteilen, die kein eigenes Fahr‐ rad besitzen. Studenten auf dem Cam‐ pus des Wissenscha­ftsparks der Uni‐ versität Utrecht können bei Kaffee und Kuchen im Fietshub lernen, wie sie ihr Fahrrad reparieren können.

Auch Menschen, die Schwierigk­ei‐ ten haben, einen Arbeitspla­tz zu fin‐ den, können sich hier bewerben, um Renovierun­gskenntnis­se zu erwerben, die ihnen bei der Arbeitssuc­he helfen.

Roetz-Bikes in Amsterdam geht noch einen Schritt weiter: Das Unter‐ nehmen zerlegt gebrauchte Fahrräder und verwendet die Teile, um sie wie‐ derherzust­ellen und in den Kreislauf zurückzubr­ingen.

Roetz-Bikes ist auch ein Pionier auf dem Gebiet der "Lebensfahr­räder": maßgeschne­iderte, hochspezia­lisierte, modulare und servicefre­undliche Fahr‐ zeuge, die buchstäbli­ch ein Leben lang halten werden.

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Die meisten Niederländ­er fahren jede Woche Rad. Davon könnten andere europäisch­e Länder lernen.

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